Holzhammer 02 - Teufelshorn
pass auf, wo deine Füße sind», sagte ihr Held von unten.
Jetzt ließ sich zum ersten Mal der andere Retter vernehmen: «Du musst die Beine steif machen und dich aussi lehnen.» Sprach’s und schob sie über die Kante.
Hatte Christine die Stimme nicht kürzlich schon mal gehört? Egal. Auf jeden Fall bekam sie Panik und machte gar nichts steif. Sie vertraute dem Seil nicht, vertraute der Situation nicht. Sie sollte sich entspannt nach hinten ins Nichts, in die Luft lehnen? Das konnte sie nicht. Vermutlich konnte niemand das beim ersten Mal. Wie ein nasser Sack rutschte sie am Fels hinunter. Ihre Hände krallten sich ans Seil, ihre Nase streifte den Fels.
Der schweigsame Bergwachtler, der auf dem Vorsprung geblieben war, sah ihr zu. «Oh, vielleicht sollten wir doch …», dann kam irgendwelches Fachchinesisch, oder besser gesagt: Fachberchtesgadnerisch. Irgendein Plan B für inkompetente Gerettete.
Sie rappelte sich auf. Es war nur dieser eine Moment gewesen. Der Moment, in dem sie sich dem Seil anvertrauen musste. Jetzt hing sie dran und fühlte, dass es hielt. Mit aller Kraft streckte sie ihre Beine gegen den Fels und stieß sich ab. «Es geht schon», sagte sie und fühlte, dass sie Dreck im Gesicht hatte.
Der Retter über ihr leuchtete mit seiner Stirnlampe in ihr Gesicht. Dann griff er in seine Brusttasche und förderte ein Tuch zutage. Er reichte es ihr hinunter. Sie wischte sich den Dreck ab, den sie mit der Nase vom Fels gewischt hatte. Sehr aufmerksam …
Christine stutzte. Im Schein der Stirnlampe blickte sie auf ein rot-weißes Tuch. Es stellte eindeutig die kanadische Flagge dar. Genau dieses Tuch hatte Hilde Stranek auf dem Foto im Anzeiger getragen, das den Bericht über die Versöhnungstour der Lokalprominenz zierte. Jetzt wusste sie auch, wo sie die Stimme schon gehört hatte: Das war der Mann, der am Grünstein-Klettersteig Hilde Stranek gegrüßt hatte. Sie sah hoch. Wegen seiner Stirnlampe konnte sie das Gesicht des Bergwachtlers immer noch nicht erkennen, die Lampe blendete sie. Kommentarlos nahm er ihr das Tuch aus den Händen und steckte es schnell in die Tasche. Hatte er etwas gemerkt?
Dann ging es abwärts. Christine krallte sich krampfhaft am Seil fest, obwohl das gar keinen Sinn machte. Sie sah nach oben und erkannte, dass der zweifelhafte Retter sie per HMS abließ. Diesen Knoten, die Halbmastwurfsicherung , lernte man beim Klettergrundkurs. Hand nach oben, der Knoten bremst. Hand nach unten, der Knoten löst sich, und das Seil läuft durch den Karabiner. Wenn der Sicherer aus irgendeinem Grund falsch reagiert oder nur eine Sekunde in seiner Aufmerksamkeit nachlässt, hat man Pech gehabt. Wenn er ohnmächtig wird oder einen Stein auf den Kopf bekommt, sowieso. In der Berchtesgadener Kletterhalle sicherten viele auf diese Weise, obwohl es inzwischen diverse ausgeklügelte Geräte gab, die den menschlichen Faktor auf ein Minimum reduzierten.
Jetzt hing Christine an so einem seidenen Faden. Und diesen Faden hatte jemand in der Hand, der, wenn sie richtig kombinierte, seine Hand auch am toten Stranek gehabt hatte. Eigentlich hätte sie froh sein sollen, dass sie von dem kleinen Felsvorsprung runter war. Aber nun hatte sie mehr Angst als da oben. Andererseits, wenn der Mann das Seil losließ, würde nicht nur sie fallen, sondern auch sein Bergkamerad.
Doch es passierte nichts. Bald kamen sie an den senkrechten Absatz, der ihr so viele Schwierigkeiten bereitet hatte. Der Retter unter ihr nahm ihren linken Fuß und setzte ihn auf den Fels. Jetzt hieß es wieder hinauslehnen und steif machen. Christine musste die ganze Zeit an den Mann oben denken, der ihrer beider Leben in der Hand hielt. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Immer noch hingen sie am Seil, Christine hatte das Zeitgefühl inzwischen völlig verloren. Aber irgendwann musste es doch zu Ende sein.
«Wie lang ist eigentlich das Seil?», fragte sie den Mann unter sich.
«Hundert Meter», kam die Antwort.
Und kurze Zeit später von oben ein laut gerufenes «Seil aus!».
Gleichzeitig hatten sie halbwegs gangbares Gelände erreicht. Es war tatsächlich nur diese eine Stelle gewesen, die sie aufgehalten hatte. Alles andere wäre zumindest im Hellen machbar gewesen. Christine wurde vom Gurt befreit. Hier unten wuselten mehrere Bergwachtler herum, deren konkrete Funktion Christine nicht erraten konnte. Einer stand jedenfalls abseits bei dem riesigen Scheinwerfer, der genauso aussah wie das Gerät, mit dem man in Gotham City Batman
Weitere Kostenlose Bücher