Homicide
»Täter dieses Typs schwer zu vernehmen sind und in ihrer Vorstellung im Lauf der Zeit eine neue Version der Ereignisse konstruieren, sodass sie sich selbst mit dem Verbrechen irgendwann kaum noch in Verbindung bringen. Es ist möglich, dass die Tötung des Opfers bereits kurze Zeit nach der Kontaktaufnahme erfolgte, weil das Opfer nicht die Reaktion zeigte, die der Täter erwartete. Vielleicht stellte er fest, dass er das Opfer nicht unter Kontrolle halten konnte und sah sich deshalb zur Tötung gezwungen. Wahrscheinlich hat das Opfer dem Täter anfangs vertraut und ist ihm freiwillig in seine Wohnung oder ein anderes Gebäude gefolgt.«
Das Profil beschrieb den Täter als ungefähr fünfzig Jahre alt, wahrscheinlich unverheiratet, mit einer problematischen Lebensgeschichte und Schwierigkeiten in Beziehungen zu Frauen: »Der Täter hatte höchstwahrscheinlich bereits früher Kontakt mit minderjährigen Mädchen aus der Nachbarschaft. Latonya Wallace wurde vermutlich nicht von einem Fremden ermordet.«
Für Landsman und Pellegrini passt das FBI-Profil haargenau auf den Fish Man. Aber ohne aussagekräftige Spuren bleibt ihnen nur, den Alten noch einmal einem scharfen Verhör zu unterziehen und zu hoffen, dass sich dabei etwas Neues ergibt. Deshalb bleiben Edgerton und Pellegrini noch im Büro, als Landsman nach Hause fährt. Sie wollen sich bis spät in der Nacht auf ihre zweite Begegnung mit dem Fish Man vorbereiten, die für das Wochenende angesetzt ist.
Landsman jedoch setzt auch in eine abermalige Vernehmung keine großen Hoffnungen. Schließlich stand in der FBI-Analyse, dass ein gewalttätiger Sexualverbrecher nur schwer zu einem Geständnis zu bewegen ist. Solchen Leuten kann man im Verhör keine Deals anbieten, es gibt keine Möglichkeit, den Mordvorwurf irgendwie abzuschwächen. Außerdem sind diese Verbrecher Soziopathen, die keine Gewissensbisse kennen und ihre Tat mühelos rationalisieren. Hinzu kommt noch, dass der Fish Man bereits einmal als freier Mann aus einer Vernehmung spaziert ist – eine zweite würde ihn weit weniger beeindrucken. Und dann haben sie immer noch nicht den eigentlichen Tatort gefunden, es fehlt ihnen jede handfeste Spur, mit der sie den Verdächtigen festnageln könnten. Die Detectives haben nichts als Gerüchte, Verdächtigungen und ein passendes Täterprofil. Aber ohne den Tatort haben sie nichtsin der Hand, um die Darstellung des Fish Man zu erschüttern, nichts, um damit im Verhör Druck auf ihn auszuüben.
Es ist ein vertrackter Fall. Was, was bloß haben wir übersehen, fragt sich Landsman. Während er durch den Abendverkehr auf der Liberty Road steuert, lässt er im Geist die zwei Wochen der Ermittlung Revue passieren. Seit dem 4. Februar sind die Detectives Tag für Tag in Reservoir Hill angerückt, haben die Anwohner befragt und in einem immer größeren Umkreis um die Newington Avenue Garagen und leer stehende Wohnungen überprüft. Mit Einwilligung der Bewohner konnten die Detectives alle dreizehn bewohnten Häuser auf der Nordseite der Newington sowie etliche weitere des Blocks an der Callow und Park Avenue ohne Durchsuchungsbefehl begehen. Sie haben die Alibis und Wohnquartiere jedes männlichen Tatverdächtigen überprüft, der in das Raster ihrer Ermittlungen passte.
Die Kleidungsstücke und sonstigen Sachen des Mädchens wurden immer noch auf Spuren untersucht. Aber außer den schwarzen Schmierflecken an ihrer Hose war nichts Vielversprechendes dabei. Die blaue Tasche und ihren Inhalt hatte man in ein Speziallabor in Rockville, Maryland, geschickt, wo sie mit Lasertechnologie auf Fingerabdrücke untersucht wurden. Tatsächlich fand man ein paar Fingerabdrücke auf den Leihbüchern, die nun im vierten Stock des Präsidiums durch einen Printrak-Computer gejagt würden, um sie mit den gespeicherten Fingerabdrücken aller schon einmal Festgenommenen Baltimores abzugleichen.
Weil nicht auszuschließen war, dass das Mädchen mehr als nur ihren Ohrring am Tatort zurückgelassen hatte, erkundigte sich Edgerton in der Bibliothek nach den Buchtiteln, die es an jenem Dienstagnachmittag ausgeliehen hatte. Als man ihm diese Information unter Verweis auf den Datenschutz verweigerte, rief Edgerton den Bürgermeister an – für den Bonzen von Baltimore war es natürlich eine Kleinigkeit, die Bibliothekare zum Einlenken zu bringen. Inzwischen hatte sich Pellegrini mehr als ein Jahrzehnt tief in alte Mordakten gewühlt und jeden ungelösten Fall und jede Entführung eines
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