Homicide
Glück erwies. Denn nach jeder Moralpredigt und jeder verhüllten Drohung, die ihre Wirkung verfehlten, war es die Mutter, die hereinkam und ihrer Tochter sagte, sie solle vernünftig sein und es hinter sich bringen.
Yolanda wischte sich die Tränen fort, fing gleich wieder an zu heulen, schmierte sich erneut in den Augen herum. Dann hörte McLarney zum ersten Mal die Wahrheit über den Mordversuch an Officer Eugene Cassidy.
»Butchie hat auf den Polizisten geschossen.«
Nach Angaben des Mädchens spielte sich der ganze Vorfall in weniger als einer Minute ab. Cassidy war schon aus seinem Streifenwagen ausgestiegen und wartete auf die zwei, als sie in die Appleton einbogen.
»He!, ich hab’ mit Ihnen zu reden.«
»Weshalb das denn?«
»Hände an die Wand.«
Butchie Frazier schickte sich an, die geforderte Haltung einzunehmen, zog dann aber plötzlich eine Waffe aus seiner rechten Jackentasche. Cassidy, der Linkshänder war, packte Fraziers Pistole. Dadurch konnte er aber nicht nach seiner eigenen Waffe greifen, die im Holster an seiner linken Hüfte steckte. Während Cassidy noch die Waffe umklammerte, drückte Frazier ab. Der erste Schuss ging ins Leere. Sekunden später befand sich die Waffe direkt an Cassidys linker Wange und Frazier drückte zwei Mal ab.
Cassidy stürzte einige Meter neben dem Streifenwagen auf den Bürgersteig, und Frazier floh mit seiner Waffe über die Hinterhöfe. Yolanda schrie, lief auf die Straße zurück und ging dann um den Block zu ihrer Wohnung in der Monroe Street, wo sie ihrer Mutter erzählte, was passiert war. Weder die Mutter noch das Kind dachten daran, die Polizei zu rufen, genauso wenig wie John Moore, der später am gleichen Abend behauptete, nichts gesehen zu haben. Auch Moores Freund meldete sich nicht als Zeuge, bis ihn die Detectives mit den Tatsachen konfrontierten. Und noch ein weiteres Paar, das auf der Appleton Street unterwegs gewesen war und das Gerangel zwischen Frazier und dem Officer beobachten konnte, hatte sich nicht gemeldet und wurde erst identifiziert, nachdem Moore und sein Freund noch andere benannt hatten, die zur Tatzeit auf der Straße waren.
West Baltimore. Man sitzt auf der Eingangstreppe, trinkt sein Colt 45 aus einer braunen Papiertüte und sieht zu, wie ein Streifenwagen gemächlich um die Ecke biegt. Man sieht den Schützen, man hört die Schüsse, man beobachtet von der gegenüberliegenden Straßenseite, wie die Rettungssanitäter die Reste eines Officers vom Pflaster heben und in die Ambulanz schieben. Dann geht man wieder ins Haus, macht sich noch eine Dose auf, fläzt sich vor den Fernseher und schaut sichdie Wiederholung des Gesehenen in den Elf-Uhr-Nachrichten an. Anschließend setzt man sich wieder raus auf die Treppe.
McLarney kennt den Western District, er weiß, wie es dort zugeht. Aber selbst nach all den Jahren auf der Straße kann er immer noch nicht glauben, dass ein ganzes Viertel wegsieht, wenn einem Polizisten zwei Kugeln in den Kopf gejagt werden. Und als Yolanda Marks schließlich zusammenklappt, hört McLarney auf, Büroklammern zu malträtieren und kehrt voller Unschuld zum Verhör zurück. Er redet über die menschliche Tragödie, über zerstörtes Lebensglück. Dann geht er hinaus. Er weiß, dass nichts, was er gesagt hat, diese Tränen zum Versiegen bringen kann.
Am selben Abend, als McLarney bei Cassidy zu Hause anruft, um ihm die Geschichte von der Appleton Street zu erzählen, fällt Cassidy schlagartig ein, dass er den Mann kannte, der versuchte, ihn umzubringen. Clifton Frazier war die Zecke in Cassidys Revier, ein arroganter Dealer, der erst eine Woche zuvor einen älteren Mann bewusstlos geschlagen hatte. Der Alte hatte bei der Auseinandersetzung ein Auge verloren, und das bloß, weil er es gewagt hatte, sich einzumischen, als er beobachtete, wie Frazier auf offener Straße eine junge Frau verprügelte. Cassidy wusste davon, weil er schon seit Tagen nach Frazier, auf den ein Haftbefehl ausgestellt war, gesucht hatte.
Auf einmal konnte sich Cassidy die Sache in der Appleton Street für Cassidy zusammenreimen, ja mehr noch, sie ergab einen Sinn. Endlich musste er nicht mehr darüber nachgrübeln, ob er die Schüsse abbekam, weil er wie ein Grünschnabel in einen Dealertreff hineinspaziert war. Er war angeschossen worden, weil er seinen Job gemacht hatte, weil er eine Verhaftung vornehmen wollte – so wie dann später im Krankenhaus an dem Fünfzehnjährigen im Nebenbett. Damit konnte er leben. Es blieb ihm
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