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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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wie der Fish Man reagiert, als sie an den Fenstern des Labors vorbeigehen. Der alte Mann scheint alles genau wahrzunehmen, zeigt aber keine Regung. Der Detective führt den Tatverdächtigen über die Hintertreppe einen Stockwerk höher ins Büro des Morddezernats, durch das Aquarium in das Büro des Captain, das die größte Autorität ausstrahlt. Der ausladende Schreibtisch, der Stuhl mit der hohen Rückenlehne und der Ausblick auf die Skyline von Baltimore geben der ganzen Veranstaltung noch mehr Gewicht. Bevor sie dem Mann die Miranda-Rechte vorlesen, lassen Pellegrini und Edgerton dem Fish Man Zeit, sich all die Karten, Luftaufnahmen und die unpersönlichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom Gesicht des toten Mädchens anzuschauen, die in der Rechtsmedizin mit einer über dem Autopsietisch fest installierten Kamera aufgenommen wurden. All das ist am Wandbrett und an verschiedenen Stellwänden angepinnt, die das halbe Büro zustellen. Der Fish Man sieht auch sein eigenes Konterfei, ein Passfoto, auf derselben Stellwand wie das Foto des Mädchens. Sie tun alles Erdenkliche, diesen ihren aussichtsreichsten Tatverdächtigen im Mordfall Latonya Wallace glauben zu lassen, dass sie genug Beweise gegen ihn haben oder in Kürze haben werden, dass sie aus einer Position der Stärke heraus mit ihm reden und dass er seiner Strafe nicht entkommen wird.
    Und dann gehen sie auf ihn los. Zuerst Pellegrini, dann Edgerton. Sie reden auf ihn ein, mal laut und schnell, dann flüsternd, dann dröhnend, kurz angebunden, schließlich schreien sie. Sie wiederholen ihre Fragen wieder und wieder. Vor der Tür lauschen Landsman und die anderen, ob der Angriff gelingt, ob sich der Graukopf provozieren lässt, ob irgendetwas trifft und der Fish Man sich den Ansatz einer Geschichte entlocken lässt. Einer nach dem anderen verlassen die Detectives den Raum, kehren wieder zurück, gehen wieder hinaus, kommen noch einmal, jedes Mal mit einer neuen Frage, neuen Taktiken, die sich jene ausdenken, die still vor der Tür zuhören.
    Die Konfrontation ist perfekt inszeniert, alle sind überzeugt, dassbei diesem Red Ball die gesamte Schicht an einem Strang gezogen hat und im Rahmen des Gesetzes alles Menschenmögliche unternommen wurde, einem Tatverdächtigen ein Geständnis abzuringen. Doch der Alte ist verschlossen wie ein Stein, eine undurchdringliche, stoische Masse, er zeigt weder Angst noch Unruhe, er empört sich nicht einmal darüber, dass man ihn beschuldigt, sich an einem Kind vergangen und es ermordet zu haben. Er streitet bloß alles verächtlich ab, was sie ihm vorhalten, und liefert ihnen nichts als das, was er schon in früheren Vernehmungen zu Protokoll gegeben hat. Ein Alibi für Dienstag bringt er nicht vor. Und zugeben will er rein gar nichts.
    In den ersten Stunden des Verhörs ordnet sich Pellegrini noch einmal Edgerton unter, der so etwas schon öfter durchgezogen hat. Mit einem gewissen Unbehagen hört er zu, wie Edgerton alles, was sie haben, vor ihrem Tatverdächtigen auspackt. Beim Versuch, ihn von ihrer Allwissenheit zu überzeugen, sagt Edgerton dem Fish Man, sie wüssten über die kleinen Mädchen Bescheid; die hätten ihnen erzählt, wie scharf er auf sie wäre. Wir kennen die alte Geschichte mit der Vergewaltigung, versichert ihm Edgerton. Wir wissen, warum Sie immer noch kein Alibi haben.
    Pellegrini hört zu, wie der erfahrene Detective vor dem Alten ihr bestes Pulver verschießt, ohne die geringste Wirkung zu erzielen. Zu spät merkt er, dass das nicht reicht. Stunde um Stunde lässt Edgerton mit seinem New Yorker Stakkato ein Trommelfeuer an Worten und Sätzen auf ihn ab, doch Pellegrini spürt, dass der Panzer des Alten nur noch dicker wird. Die Detectives haben ihre Vermutungen, sie haben ihre Wahrscheinlichkeiten, sie haben Ansätze zu einem Indizienfall. Was ihnen dagegen fehlt, sind handfeste, greifbare Beweise, Beweise von der Art, vor denen auch der Hartgesottenste kapituliert und zugibt, was kein Mensch jemals freiwillig zugeben würde. Da haben sie ihn vor sich sitzen, feuern aus allen Rohren und landen doch keinen Treffer.
    Wenn sie recht haben – wenn der Fish Man Latonya Wallace gequält und getötet hat –, dann haben sie nur eine, höchstens zwei Chancen, seinen Widerstand zu brechen, ihm ein Geständnis abzuringen. Und die erste haben sie bereits eine Woche zuvor am Samstag vertan, dies ist ihr letzter Versuch.
    Als Edgerton müde wird, spielt Pellegrini die wenigen Karten aus,die ihnen verblieben sind. Er

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