Homicide
traktiert den Alten mit offenen Fragen, in der Hoffnung, etwas mehr als bloß einsilbige Antworten zu erhalten. Er versucht, die Gefühle des Alten für das tote Mädchen zu erkunden. Aber es sind Fragen ohne Konzept, Schüsse ins Blaue. Als Pellegrini nicht die geringste Regung im Gesicht des Mannes entdecken kann, hadert er mit sich selbst. Da sitzt er nun, Auge in Auge mit seinem besten, vielversprechendsten Tatverdächtigen, und er hat keinen Trumpf im Ärmel, kein Brecheisen, mit dem er die Seele dieses Mannes aufstemmen könnte.
Zum wiederholten Mal spürt Pellegrini dieses hartnäckige Bedauern, hat er dieses nagende Gefühl, dass ihm der Fall entgleitet. In dieser Konfrontation, der kritischsten bisher, hat er das Ruder Edgerton überlassen. Dummerweise hatte Edgerton keinen Plan – aber verdammt, keiner von ihnen hatte einen.
Sie hatten sich auf die verzweifelte Hoffnung gestützt, dass der Fish Man sich von ihrer Erfahrung, ihrem Wissen und ihrer Autorität einschüchtern lassen würde – so sehr, dass er seine dunkelsten Geheimnisse preisgab. Pellegrini fragt sich inzwischen, ob ihr Tatverdächtiger überhaupt genug Grips hat, um diese Art von Angst zu empfinden. Der Anblick des Labors schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken, genauso wenig wie die Fotos aus dem Autopsiesaal. Entweder war der Fish Man wirklich unschuldig, oder er war völlig unfähig, Mitgefühl zu empfinden.
Nach acht Stunden, als erst Pellegrini und dann Edgerton vor Enttäuschung und Erschöpfung aufgegeben haben, rufen sie einen Streifenwagen. Der Ladenbesitzer wartet in aller Seelenruhe auf dem grünen Kunstledersofa im Aquarium auf den Uniformierten, der ihn in die Whitelock Street zurückfährt. Dann steht er langsam auf und schlurft als freier Mann den Korridor im fünften Stock entlang.
Zwei Tage später kommt Pellegrini zur Nachtschicht, schaut ins Schichtbuch und sieht, dass er der einzige Detective im Dienst ist. Fahlteich ist in Urlaub, Dunnigan und Ceruti haben frei, und Rick Requer, der sich noch wegen eines Armbruchs schonen muss, macht nur Büroarbeit.
»Fahrt nur nach Hause«, sagt er zu Kincaid und den anderen von der Tagschicht, nachdem er sich einen Kaffee geholt hat.
»Wo ist der Rest der Ablösung?«, fragt Kincaid.
»Ich bin die Ablösung.«
»Du allein?«
»Was willst du?«, sagt Pellegrini. »Eine Stadt, ein Detective.«
»Scheiße, Tom«, sagt Kincaid. »Da hoffe ich für dich, dass das verdammte Telefon nicht klingelt.«
Aber natürlich klingelt es. Und um fünf Uhr in der Frühe steht Pellegrini im Pissgestank eines kleinen, dunklen Durchgangs zwischen zwei Gebäuden in der Clay Street und blickt auf die sterblichen Überreste eines Obdachlosen mit eingeschlagenem Schädel und heruntergelassenen Hosen. Der Mann hatte sich lediglich ein ruhiges Plätzchen gesucht, um seine Notdurft zu verrichten, und für diesen bescheidenen Wunsch war er zu Tode geprügelt worden. Ein Mord, wie man ihn sich sinnloser nicht vorstellen konnte.
Etwas später am selben Morgen stellt der Verwaltungs-Lieutenant klar, dass Pellegrini der leitende Ermittler im Fall Latonya Wallace ist, und gibt ihm die Anweisung, den Fall 88033, den Mord an Barney Erely, fünfundvierzig, ohne festen Wohnsitz, an Roger Nolans Truppe abzugeben. Über diese Entscheidung ist Nolan nicht gerade begeistert.
Doch mit der Abgabe dieses Falls ist nichts gelöst. In dieser Welt gibt es mehr Morde als Detectives und Baltimore ist eine Stadt, in der die Zeit nicht stehen bleibt, nicht einmal für Latonya Wallace. Eine Woche später sind Pellegrini und Gary Dunnigan allein im Büro auf der Nachtschicht, als das Telefon klingelt und eine Messerstecherei mit tödlichem Ausgang im Southeast gemeldet wird.
Und Pellegrini macht wieder normalen Schichtdienst.
Vier
Montag, 22. Februar
K eine Zeugen, kein Motiv, aber eine ermordete Vierundvierzigjährige, mit etlichen Stichwunden und einem Kopfschuss aus offenbar geringer Entfernung. Na wenigstens liegt sie in einer Wohnung, denkt sich Rich Garvey.
Wilson von der Spurensicherung unterbricht seine Blitzaufnahmen, um einen neuen Film einzulegen, und Garvey nutzt die Pause, um noch einmal durch das Zimmer zu gehen und im Kopf Listen abzuspulen. Man hört förmlich, wie Karteikarten umgeklappt werden.
»He!, wo ist denn dein Kumpel?«, fragt Wilson.
Der Detective blickt zerstreut auf. »Wen meinst du?«
»Na, deinen Partner, McAllister.«
»Er hat heute Abend frei.«
»Och, hat er dich ganz
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