Homicide
Ballistik bestätigt.
Montag, 29. Februar
Der Abend, an dem Lena Lucas und Purnell Booker tot aufgefunden wurden, liegt jetzt eine Woche zurück, und beide Fälle machen langsam, aber unaufhaltbar Fortschritte. Neue Berichte lassen die beiden Akten anschwellen, und im Morddezernat von Baltimore, wo die Gewalttaten des einen Tages schnell die des nächsten verdrängen, gilt eine dicke Akte schon als gutes Zeichen. Die Zeit macht oft die sorgfältigsten Ermittlungen zunichte, und ein Detective, der das sehr wohl weiß, verwendet seine kostbaren Stunden immer darauf, die Sache an den aussichtsreichsten Punkten anzupacken, mögliche Zeugen und Tatverdächtige ins Präsidium zu bestellen, stets in der Hoffnung, dass sich irgendetwas zusammenfügt. Denn er kann weder langfristig planen noch sich auf umständliche, detaillierte Ermittlungen einlassen, bald wird die nächste Fallakte auf seinem Schreibtisch landen. Rich Garvey hat sich dieser Logik jedoch nie gebeugt.
»Für den ist ein Fall das, was für einen Hund ein Knochen ist«, hat Roger Nolan einmal voller Stolz zu einem anderen Sergeant gesagt. »Solange noch die geringste Spur dran ist, nagt er unentwegt daran herum.«
Natürlich sagt Nolan das nur zu anderen Sergeants, gegenüber Garvey tut er lieber so, als wäre es normal, dass ein Detective einen Fall erst weglegt, wenn rein gar nichts mehr zu klären ist. Dabei ist das alles andere als normal. Denn nach fünfzig, sechzig oder siebzig Morden ist ein Toter im Drogenmilieu wie der andere. Und nichts turnt einen Detective mehr ab als die Rückkehr ins Büro, um dort den Namen eines Opfers in den Computer zu hacken und aus dem Drucker eine fünfoder sechs Seiten lange Aufzählung von Vorstrafen zu ziehen. Burn-out ist im Morddezernat kein Risiko, es ist unvermeidbar, ein grassierendes Virus, das sich von einem Detective auf seinen Partner und schließlich auf ein ganzes Team überträgt. Die Folge ist eine gewisse Scheiß-drauf-Haltung. Dies gilt aber nur für die Fälle, wo der Ermordete kaum vom Mörder zu unterscheiden ist, Fälle, in denen es um wirkliche Opfer geht, sind von diesem Syndrom unberührt; sie heben sogar vorübergehend den allgemeinen Burn-out auf. Das philosophische Paradox eines amerikanischen Detective: Wenn in Westbaltimore ein Drogendealer umkippt und niemand in der Nähe ist, der ihn hört, macht er dann überhaupt ein Geräusch?
Obwohl schon vier Jahre im Morddezernat und dreizehn bei der Polizei ist Garvey einer der wenigen in der Truppe, der noch nicht von dem Virus befallen ist. Es spricht für sich, dass er einem sofort sagen kann, bei welchen von fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Ermittlungen er der leitende Ermittler war, während die meisten Detectives nach ein paar Jahren an der Front von Baltimore ihre Fälle nicht mehr auseinanderhalten können. Garveys ungelöste Fälle kann man an einer Hand abzählen.
»Wie viele genau?«
»Vier, glaube ich. Nein, fünf.«
Es ist keine Eitelkeit, dass Garvey diese Statistik stets parat hat – sie ist einfach sein wichtigster Bezugsrahmen. Entschlossen, aggressiv, hartnäckig bis zur Unerbittlichkeit, beschäftigt sich Garvey einfach gern mit Mordfällen. Ein ungeklärter Mord oder ein fauler Deal vor Gericht gehen ihm immer noch zu Herzen. Schon das allein reicht, ihn als Fossil, als letzten Vertreter einer Moral erscheinen zu lassen, die schon vor ein oder zwei Generationen zu existieren aufgehört hat, als in allen städtischen Ämtern Baltimores das althergebrachte Motto »Niemals die Flinte ins Korn werfen!« durch das lapidare »Nicht mein Bier!« und schließlich durch das achselzuckende »Dumm gelaufen!« ersetzt wurde.
Rich Garvey ist ein Anachronismus, das Produkt einer Kindheit im konservativen Milieu, einer Erziehung im Geist des traditionellen amerikanischen Optimismus. Garvey scheut sich nicht, einem Ankläger auf die Zehen zu treten, wenn ihm Totschlag und zwanzig Jahre zu wenig erscheinen, und ihm unverblümt ins Gesicht zu sagen, dass jeder nichtvöllig unterbelichtete Rechtsverdreher auf Mord und fünfzig Jahre plädiert hätte. Garvey erscheint mit schwerer Grippe im Dienst und fährt dann raus zu einer Prügelei in Pigtown, denn, was soll’s, wenn er schon gestempelt hat, kann er auch einen Fall erledigen. Und es ist auch Garvey, der den Spruch »Denkt dran, wir arbeiten für Gott« fotokopiert, der von Vernon Geberth stammt, dem berühmten New Yorker Polizeichef. Ein Exemplar hängt er über seinen
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