Homicide
Dahingeschiedenen sind, kaum dass die Neuigkeit vom Mord die Runde gemacht hat. Ihre Chance ist der kurze Moment, wenn die Polizei bereits weg ist und die Familie noch keinen klaren Gedanken gefasst hat. Deshalb muss die Trauer warten, im Moment hat die Mutter des Opfers damit zu tun, die Mehrkanal-Hi-Fi-Anlage vor den Hyänen in Sicherheit zu bringen.
Der Rest der Familie legt eine makabre Neugier an den Tag. Ein Cousin deutet auf den geronnenen Blutsee auf dem Schlafzimmerteppich. »Lenas Blut?«
Ein Polizist nickt, woraufhin sich der Cousin zu der älteren Schwester des Opfers wendet.
»Lenas Blut«, wiederholt er. Das war kein gute Idee, denn jetzt fängt Jackies ältere Schwester hemmungslos zu schluchzen an und steuert mit ausgebreiteten Armen auf den roten Fleck zu.
»M OMMY, M OMMY, ICH SEHE M OMMY VOR MIR !« Die Kleine reibt mit den Händen auf dem Flecken herum und quetscht den Rest Feuchtigkeit heraus. »M OMMY, MEINE M OMMY …«
Garvey sieht zu, wie der Cousin und ein weiterer Verwandter die ältere Tochter packen und wegzerren. »… M OMMY, GEH NICHT, M OMMY …«
Das Mädchen kommt schreiend mit erhobenen Armen auf Garvey zu, beide Handflächen blutverschmiert. Die teure Reinigungsrechnung vor Augen, tritt Garvey schleunigst den Rückzug an.
»Also gut, Jackie«, sagt er. »Danke, meine Süße. Du hast meine Telefonnummer, ja?«
Jackie Lucas nickt, dann wendet sie sich ab, um ihre Schwester zu trösten. Als das Geheule noch lauter wird, ergreift Garvey endgültig die Flucht, folgt dem Spurensicherer die Treppe hinunter und kriecht in seinen kalten Chevy. Er hat fast vier Stunden am Tatort verbracht.
Bevor er ins Büro zurückfährt, lässt es sich Garvey nicht nehmen, zwölf Blocks weiter nach Norden zu fahren, um zu sehen, ob sie bei dem seltsamen Todesfall Hilfe brauchen, der drei Stunden nach der Gilmor-Sache reingekommen ist. Bei einem Anruf im Büro hat er erfahren,dass es sich hier möglicherweise ebenfalls um einen Mord handelt, der vielleicht sogar mit der Gilmor-Street in Zusammenhang stehen könnte. Im zweiten Stock eines Hauses in der Lafayette Avenue stößt er auf Rick James und Dave Brown, die den Mord an einem Fünfzigjährigen bearbeiten.
Wie Lena Lucas erlitt auch das Opfer in der Lafayette Avenue einen Kopfschuss und mehrere Stichwunden, allerdings in die Brust. Und wie bei Lena Lucas liegt auch hier ein Kissen mit deutlichen Schmauchspuren neben dem Kopf des Toten. Darüber hinaus ist das Gesicht mit denselben oberflächlichen Schnittwunden bedeckt – über zwanzig in diesem Fall. Das Opfer, dessen Tod offensichtlich schon vor einiger Zeit eingetreten ist, wurde von Familienangehörigen gefunden, die sich Sorgen gemacht hatten und durch eine unverschlossene Hintertür hereingekommen waren. Auch hier gibt es keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen, allerdings wurde das Zimmer, in dem das Opfer liegt, durchwühlt.
Jeder Zweifel am Zusammenhang zwischen den beiden Fällen schwindet, als Garvey erfährt, dass es sich bei dem Toten um Purnell Hampton Booker handelt, den Vater Vincent Bookers, des Typen also, der für Robert Frazier dealt. Und Robert Frazier verkauft Stoff und hatte ein Verhältnis mit Lena Lucas. Als Garvey im Schlafzimmer des Toten steht, ist er sich so gut wie sicher, dass beide Leben von derselben Hand ausgelöscht wurden.
Garvey überlässt Brown und James ihrer Arbeit am Tatort und kehrt ins Morddezernat zurück, wo er sich an einem hinteren Schreibtisch in die Akten vertieft. Als die Detectives von der Lafayette Avenue zurückkehren, hockt er immer noch dort.
Als wären die unmittelbaren Übereinstimmungen an den beiden Tatorten noch nicht genug, stellt sich heraus, dass die Kugel, die am nächsten Morgen bei der Autopsie aus Purnell Bookers Gehirn gezogen wird, genau so ein komisches Wadcutter-Geschoss ist. Am späteren Nachmittag schlendert Dave Brown, der leitende Ermittler für den Lafayette-Fall, mit einem Foto des jungen Vincent Booker zu Garveys Schreibtisch rüber.
»Guck mal, ulkig, sieht so aus, als hätten wir demnächst einiges miteinander zu tun.«
»Tja, lässt sich wohl nicht vermeiden.«
Wie es so kommt, hat Garvey schon am Nachmittag einen anonymen Tipp bekommen. Eine Frau will in einer Bar an der West Pratt Street gehört haben, wie ein Mann zu einem anderen sagte, bei dem Mord an Lena Lucas und dem alten Mann in der Lafayette sei dieselbe Pistole verwendet worden.
Interessantes Gerücht. Einen Tag später wird es von der
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