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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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er könne das Geschehen beeinflussen, wird er einen Anwalt verlangen.
    Folglich ist die Miranda-Belehrung eine psychische Hürde, ein entscheidender Augenblick, der im Verhör mit größter Sorgfalt platziert werden muss. Bei bloßen Zeugen ist die Rechtsbelehrung nicht erforderlich, sie kann ein Detective stundenlang vernehmen, ohne sie über irgendwelche Rechte zu informieren. Sollte allerdings ein Zeuge plötzlich etwas sagen, das auf eine Tatbeteiligung hinweist, wird er – nach der Definition des Obersten Gerichtshofs – augenblicklich zu einemVerdächtigen und muss sofort über seine Rechte aufgeklärt werden. In der Praxis verschwimmt oft die Grenze zwischen einem potenziellen Verdächtigen und einem Verdächtigen, und in jedem amerikanischen Morddezernat sieht man immer wieder Detectives vor dem Verhörraum stehen und darüber debattieren, ob eine Miranda-Belehrung notwendig ist oder nicht.
    Das Morddezernat von Baltimore lässt sich vom Verdächtigen die Belehrung über seine Miranda-Rechte durch Unterschrift auf einem Formular bestätigen, wie das vielerorts üblich ist. In einer Stadt, in der sonst neun von zehn Verdächtigen behaupten würden, sie seien nie über ihre Rechte informiert worden, haben sich diese Formulare als äußerst sinnvoll erwiesen. Mehr noch, mit der Zeit haben die Detectives bemerkt, dass das Formular die Wirkung der Belehrung eher abschwächt, statt die Aufmerksamkeit auf den Inhalt zu lenken. Denn es warnt zwar vor den Gefahren eines Verhörs, bezieht aber den Verdächtigen in den Prozess mit ein. Er ist es, der den Stift ergreift, seine Initialen hinter jeden Punkt setzt und am Ende unterschreibt. Er wird sozusagen gebeten, bei der Erledigung des Papierkrams mitzuhelfen. Bei den Zeugen erreicht man denselben Effekt mit einem Informationsblatt und drei Dutzend Fragen, die maschinengewehrartig aufeinanderfolgen. Das Formular gibt den Ermittlern nicht nur wertvolle Informationen an die Hand – Name, Spitzname, Größe, Gewicht, Hautfarbe, Arbeitgeber, Beschreibung der Kleidung zur Zeit des Gesprächs, Verwandte in Baltimore, Namen der Eltern, Ehegatte, Freund oder Freundin –, es gewöhnt den Zeugen auch an den Gedanken, Fragen zu beantworten, bevor die eigentliche Vernehmung beginnt.
    Auch wenn ein Verdächtiger wirklich einen Anwalt möchte, muss er – zumindest nach der härtesten Auslegung der Miranda-Entscheidung – sich sehr deutlich ausdrücken: »Ich möchte mit einem Anwalt sprechen und bis dahin keine Fragen beantworten.«
    Alles andere gibt einem guten Detective weiteren Handlungsspielraum. Die Unterschiede sind sehr fein und keineswegs nur formaler Art:
    »Vielleicht sollte ich mir einen Anwalt nehmen.«
    »Ja, vielleicht. Aber warum brauchen Sie einen Anwalt, wenn Sie nichts mit dieser Sache zu tun haben?«
    Oder: »Ich glaube, ich sollte erst mit einem Anwalt sprechen.«
    »Das sollten Sie sich gut überlegen. Wenn Sie einen Anwalt wollen, kann ich nichts mehr für Sie tun.«
    Auch wenn ein Verdächtiger einen Anwalt verlangt und dann weiter Fragen beantwortet, bis der Anwalt eintrifft, sind seine Rechte nicht verletzt. Sobald der Anwalt im Haus ist, muss dies dem Verdächtigen mitgeteilt werden, aber wenn er dann immer noch das Verhör fortsetzen will, muss die Polizei dem Anwalt nicht erlauben, mit seinem Mandanten zu sprechen. Kurz gesagt, ein Verdächtiger hat ein Recht auf einen Anwalt, aber ein Anwalt hat kein Recht auf einen Verdächtigen.
    Sobald das Miranda-Minenfeld, erfolgreich gemeistert ist, muss der Detective dem Verdächtigen mitteilen, dass seine Schuld zweifelsfrei feststeht und genügend Beweise vorhanden sind. Und dann muss er ihm einen Ausweg anbieten.
    Auch das ist ein Rollenspiel, und es verlangt einen erfahrenen Schauspieler. Wenn ein Zeuge oder ein Verdächtiger aggressiv ist, machen Sie ihn mit noch größerer Aggressivität nieder. Wenn der Mann Angst zeigt, können Sie ihn beruhigen und trösten. Wenn er schwach wirkt, treten Sie stark auf. Wenn er einen Freund sucht, machen Sie einen Witz und fragen ihn, ob Sie ihm eine Limo kaufen sollen. Ist er zuversichtlich, dann sind Sie es umso mehr und versichern ihm, dass Sie von seiner Schuld überzeugt sind und nur noch ein paar einzelne Details wissen wollen. Und wenn er arrogant ist, sich auf nichts einlässt, schüchtern Sie ihn ein, drohen ihm, machen ihn glauben, dass er seinen Arsch nur noch vor dem Gefängnis von Baltimore retten kann, wenn er Sie zufriedenstellt.
    Töten Sie Ihre Frau,

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