Homicide
sich Stricher vor den Türen der Schwulentreffs feilboten. Auf jeder Tour fügte er seiner internen Datenbank vier, fünf neue Gesichter hinzu, vier, fünf neue Opfer oder Täter, die bei einer Ermittlung vielleicht irgendwann einmal eine Rolle spielen würden. Er besaß ein fast hundertprozentiges fotografisches Gedächtnis. Und als Worden schließlich ins Präsidium zum guten alten Fandungsdezernat berufen wurde, war jedem klar, dass er nicht wieder als Ziviler ins Northwestern zurückkehren würde. Er ist der geborene Detective.
Nicht nur sein hervorragendes Gedächtnis leistete ihm gute Dienste im CID, etwa wenn jemand einen entflohenen Häftling aufspüren wollte, nach Übereinstimmungen zwischen einer Serie von Raubüberfällenin der Stadt und im County suchte oder überlegte, bei welcher Schießerei in der West Side eine 380er-Automatik verwendet worden war. Vielmehr war seine tägliche Polizeiarbeit insgesamt von Klarheit im Denken und Zielstrebigkeit und dem Beharren auf direktem Kontakt zu den Menschen geprägt. Und dasselbe erwartete er stillschweigend und in respekteinflößender Weise auch von anderen.
Worden hatten seinen Teil an Schlachten geschlagen, sich aber trotz seiner Größe nie zu Gewalt hinreißen lassen, und sein Revolver – den er, wie er immer wieder drohte, ins Pfandhaus bringen wollte – hatte in seiner Laufbahn höchst selten eine Rolle gespielt. Und dass sein Poltern und seine Provokationen im Bereitschaftsraum nur aufgesetzt waren, wussten von Brown bis McLarney alle.
Seine Größe wirkte einschüchternd, und gelegentlich machte er sich diesen Effekt zunutze. Doch letztlich war sein Kopf entscheidend für seine Arbeit, seine Fähigkeit, rasch und komplex zu denken. Am Tatort erfasste er nicht nur sofort jedes mögliche Beweismaterial, sondern registrierte auch die Umgebung und die Menschen am Rande. Meist übernahm Rick James die Kleinarbeit, und wenn er dabei aufsah, stand Worden, eine weiße Masse in einem Meer schwarzer Gesichter, einen Block entfernt. Es wäre nicht mit rechten Dingen zugegangen, wenn er nicht die eine oder andere Information über den Toten mitbrachte. Jeder andere würde in solch einer Situation mit aggressiven Blicken bedacht oder sogar beschimpft, Worden aber schaffte es irgendwie, Zugang zu den Straßenjungs zu bekommen und ihnen klarzumachen, dass er da war, um etwas in Ordnung zu bringen. Wenn sie nur ein bisschen Achtung für das Opfer verspürten, und wenn ihnen irgendwas durch den Kopf ging, das ein Detective von der Polizei möglicherweise gern wissen würde, dann hätten sie jetzt die Chance, es zu sagen.
Zum Teil lag es an Wordens ruppigem, paternalistischem Auftreten. Mit seinen blauen Augen, den Pausbacken und dem schütteren weißen Haar wirkte er wie ein Vater, mit dem es sich niemand verscherzen wollte. In Befragungen und Verhören sprach er leise, und sein Gesichtsausdruck suggerierte, ihn anzulügen sei eine Sünde, für die es keine Rechtfertigung gebe. Das wirkte bei Schwarz und Weiß, Mann und Frau, Homo und Hetero. Worden verkörperte eine Wahrhaftigkeit, die über das Ausmaß des in seinem Beruf Üblichen hinausging. Draußenauf der Straße schlossen Leute, die für andere Gesetzeshüter nur Verachtung übrig hatten, mit Donald Worden einen separaten Frieden.
Als er bereits im Präsidium war und gemeinsam mit Ron Grady im Raubdezernat arbeitete, drohte ihnen einmal die Mutter eines festgenommenen Jungen, bei der Innenrevision Beschwerde wegen Anwendung körperlicher Gewalt einzulegen. Man hatte ihr berichtet, Grady habe den Jungen in einer Revierzelle zusammengeschlagen.
»Grady hat Ihren Sohn nicht verprügelt«, antwortete Worden der Frau, »das war ich.«
»Okay, Mister Donald«, sagte die Frau daraufhin, »wenn Sie ihm ein paar hinter die Ohren geben mussten, dann hatte er es wohl verdient.«
Dabei schlug Worden fast nie. Es war selten nötig. Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen – oft auch weit jüngeren – war er kein Rassist, obwohl er als Junge aus der weißen Arbeiterenklave Hampden leicht auf den Geschmack hätte kommen können. Und die Polizei von Baltimore war auch nicht gerade das toleranteste Milieu, um erwachsen zu werden: Nicht selten reagierten sogar um zwanzig Jahre jüngere Cops auf das Geschehen auf den Straßen, indem sie in die Steinzeit zurückfielen und jeden Nigger und jede liberale Schwuchtel zur Hölle wünschten, weil sie das Land kaputt machten. Aber Worden, der mit nicht mehr als einem
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