Homicide
sich mit ihrer Beschwerde direkt an seine Vorgesetzten. Und als sich diese Vorgesetzten die Akte vornehmen, stehen sie vor dem Nichts. Keine Berichte, keine Aktualisierungen, keine papiergewordenen Zeugnisse neuer Erkenntnisse oder von deren Ausbleiben. Als der Captain dann noch erfährt, dass Ceruti in seinen letzten beiden Fällen Zeugen am Tatort befragt hat und nicht im Präsidium, wird es richtig ungemütlich für ihn.
»Das ist bei uns das Allerwichtigste«, erklärt ihm Dave Brown später. »Was auch geschieht, du sicherst dich mit der Fallakte ab. Wenn du alles schriftlich festhältst, kann hinterher niemand kommen und anzweifeln, was du getan hast.«
Es war allerdings nicht Landsman, der dem Captain die leere Fallakte vorgelegte. Er hatte nämlich gerade Urlaub, und so betreute Roger Nolan als Diensthabender die Beschwerde der Frau. Daher kannLandsman später gegenüber jedem, der ihm zuhört, behaupten, nicht zu Cerutis Unglück beigetragen zu haben. Doch das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Schließlich hatte ihn Landsman mit Unschuldsmiene allein rausgeschickt und so auf die Probe gestellt. Vielleicht hatte es Landsman nicht unbedingt darauf angelegt, ihn zum Straucheln zu bringen, doch zweifellos trug der Sergeant kaum etwas zu seiner Rettung bei, als Ceruti ins Straucheln kam.
Insgesamt ist es traurig, denn Ceruti ist ein intelligenter, anständiger Kerl, stets gut gelaunt und bei den Kollegen beliebt. Doch am Ende des Sommers führen die Beschwerden im Fall Stokes zur erwarteten Konsequenz. Natürlich verbannen der Captain und D’Addario Ceruti nicht aus dem fünften Stock. So viel sind sie ihm schuldig, auch wenn es Ceruti kaum tröstet. Trotzdem, ab September dient er als Detective drei Türen weiter im Sittendezernat und befasst sich mit Huren, Zuhältern und illegalen Wetten. Dass er ihnen weiterhin so nahe ist, macht ihm schwer zu schaffen.
Eine Woche nach der Versetzung steht Ceruti mit einem Kollegen von der Sitte im fünften Stock im Gang, als der Aufzug plötzlich Landsman ausspuckt, der Ceruti ungerührt in die Augen schaut.
»Hallo, Fred. Wie geht’s?«
Ceruti starrt ihn wütend an. Landsman geht an ihm vorbei, als wäre nichts geschehen.
»Da siehst du mal«, sagt Ceruti zu seinem Begleiter, »wie kalt es hier zugeht.«
Donnerstag, 30. Juni
»Ich hab’ verstanden«, sagt Terry McLarney. »Ich kann bloß nicht glauben, dass du es ernst meinst.«
Worden zuckt die Achseln.
»Du willst doch nicht in dieser Situation aufhören, Donald. Das wirst du bereuen. Das weiß ich.«
»Wart’s ab.«
»Du bist einfach nur sauer. Lass dir Zeit.«
»Das habe ich schon. Sechsundzwanzig Jahre, um genau zu sein.«
»Das ist doch genau mein Punkt.«
Worden sieht ihn an.
»Was willst du bloß anfangen? Du wirst dich zu Tode langweilen.«
Worden antwortet nicht. Er zieht den Schlüssel seines Pick-up aus der Tasche. »Es ist schon spät, Terry. Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.«
»Warte noch«, sagt McLarney und wendet sich zur Ziegelwand am Rand des Parkplatzes. »Ich muss mal schiffen. Bleib noch hier.«
Bleib noch hier. Bleib noch bei diesem ausführlichen, von Schweigepausen unterbrochenen Gespräch, das sie seit über einer Stunde auf dem leeren Parkplatz am 200er-Block der West Madison Street führen. Es ist drei Uhr morgens, und das zweistöckige, mit Kunststein verkleidete Haus auf der anderen Straßenseite mit dem als Kavanaugh’s Irish Tavern bekannten Etablissement ist dunkel und verlassen. Vor etwas mehr als einer Stunde hat es vier, fünf Detectives vom Morddezernat ausgespuckt. Die beiden Weißen in den zerknitterten Anzügen sind die letzten Zecher, und sie haben nur noch eine Dose lauwarmes Bier. Warum um alles in der Welt sollte überhaupt jemand ans Aufhören denken?
»Hör zu, Donald«, sagt McLarney, als er zurückkommt. »Das ist dein Beruf. Es ist das, was du kannst.«
Worden schüttelt den Kopf. »Es ist das, was ich zurzeit mache«, sagt er. »Aber ich kann auch was anderes machen.«
»Kannst du nicht.«
Worden funkelt seinen Sergeant wütend an.
»Weil du es eigentlich gar nicht willst. Warum solltest du auch? Ich meine, wie viele gibt es, die so gut sind wie du?«
McLarney hält inne. Er hofft, das etwas – irgendwas – von dem Gesagten zu Worden durchdringt. Er meint es, weiß Gott, ernst. Gewiss, Worden hatte zu kämpfen. Aber wenn man ein schlechtes Jahr hat, kann es eigentlich nur besser werden. Ein Team zu leiten, dem Worden angehört, ist
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