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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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starren sie an. In Geraldine Parrishs Kehle steigen tiefe, gurgelnde Geräusche auf. Sie fällt auf den Teppich, fasst sich an die Brust und schnappt nach Luft.
    Ein wenig amüsiert sieht Childs auf die Frau am Boden, dann wendet er sich gelassen zu dem Uniformierten vom Eastern. »Ich vermute, dass Sie jetzt einen Arzt rufen wollen«, sagt er, »nur um auf Nummer sicher zu gehen.«
    Der Sergeant geht wieder nach oben, wo er und Keller sämtliche Dokumente – amtliche Papiere, Versicherungspolicen, Fotoalben, Zettel – in einen grünen Müllbeutel stecken, um sie im Büro durchzusehen, wo es vergleichsweise gemütlich ist. Inzwischen treffen die Sanitäter ein, verschwinden jedoch gleich wieder, nachdem sie festgestellt haben, dass Geraldine Parrish wenn auch nicht geistig, so doch körperlich völlig gesund ist. Auf der anderen Seite der Stadt, im Haus von Geraldine Parrishs Mutter in der Division Street, ist Donald Waltemeyer ebenfalls mit einem Durchsuchungsbefehl erschienen und gräbt weitere dreißig Versicherungspolicen und ähnliche Dokumente aus.
    Es ist der Fall der Fälle, eine Ermittlung, die im Lauf der Zeit mehrund mehr die Form einer Farce annimmt. Die Akte enthält so viele seltsame, skurrile Charaktere und so viele merkwürdige, unwahrscheinliche Verbrechen, dass sie gut den Stoff für eine groteske Musikkomödie abgeben könnte.
    Doch gerade für Donald Waltemeyer ist der Fall Geraldine Parrish alles andere als komisch. Vielmehr ist es die letzte Lektion auf seinem eigenen Weg von einem Streifenpolizisten zum Detective. Nach Worden und Eddie Brown ist der einundvierzigjährige Waltemeyer Terry McLarneys erfahrenster Mann. Er kam 1986 aus der Zivileinheit des Southern District, wo er eine feste und fast schon legendäre Größe war. In den letzten zwei Jahren hat er alles gelernt, was man wissen muss, um den üblichen Einsätzen gewachsen zu sein, doch dieser Fall ist völlig anders. Irgendwann werden Keller und Childs und die anderen dem Fall zugewiesenen Detectives vielleicht wieder in die normale Schicht zurückkehren, während Waltemeyer die Rolle des leitenden Ermittlers im Fall Geraldine Parrish übernehmen muss – eine Suche nach Opfern, mutmaßlichen Mittätern und Erklärungen, die ein halbes Jahr in Anspruch nehmen wird.
    In einer Einheit, in der viel Wert auf Schnelligkeit gelegt wird, lernt ein Detective gerade bei den außergewöhnlichen Fällen, sich in Geduld zu üben. Hier bekommt er jene letzten Lektionen, die nur bei langwierigen und komplexen Ermittlungswegen möglich sind. Solch ein Fall kann einen Cop verwandeln; er gibt ihm die Gelegenheit, sich nicht nur als jemand zu betrachten, der seinen Lebensunterhalt mit dem Unglück anderer verdient und dessen Aufgabe es ist, in möglichst kurzer Zeit einen Mord nach dem anderen aufzuklären. Allerdings kann solch ein ausufernder Fall einen Cop nach ein, zwei oder drei Monaten auch an den Rand des Wahnsinns bringen – und davon ist Waltemeyer eigentlich gar nicht mehr weit entfernt.
    Erst am Tag zuvor hatte er Dave Brown wegen ein paar Fällen angefahren, sodass der sich gezwungen sah, den Wortlaut von Regel 1, Absatz 1, aus dem Verhaltenskodex ihrer Behörde vorzulesen:
    »›Alle Mitarbeiter der Polizei sollen sich zu jeder Zeit ruhig, höflich und gesittet verhalten und auf vulgäre, unanständige oder beleidigende Äußerungen verzichten.‹ Und«, fügte Brown mit einem wütenden Blick auf seinen Partner hinzu, »ich betone das Wort ›höflich‹.«
    »He!, Brown«, erwiderte Waltemeyer und zeigte ihm den Stinkefinger. »Und ich betone das hier.«
    Das bedeutet jedoch nicht, dass Dave Brown seinen Partner nicht respektieren würde. Wenn es sein muss, können sie auch zusammenarbeiten. Doch Waltemeyer hat die Angewohnheit, Brown die Polizeiarbeit erklären zu wollen, eine herablassende Haltung, die Brown nur bei Donald Worden akzeptiert. Waltemeyer wiederum ist selbst in seinen besten Zeiten der wohl launischste Detective im ganzen Dezernat und von so aufbrausendem Temperament, dass sich der Rest von McLarneys Team oft nur verwundert die Augen reiben kann.
    Kurz nach Waltemeyers Versetzung ins Präsidium hatte McLarney einmal alle Hände voll damit zu tun, mehrere Zeugen in einem Mordfall zu vernehmen. Er rief Waltemeyer hinzu und bat ihn, einen Teil der Befragungen zu übernehmen, doch als er begann, die Einzelheiten des Falls zu erklären, wurde ihm rasch klar, dass es für ihn leichter war, den Zeugen selbst zu befragen. Schon

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