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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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umbrachte. Warum jemand eine geistig Minderbemittelte wie Dollie Brown töten wollte, war unklar. Die junge Frau war eine zerbrechliche, fast durchsichtige Person, hatte, soweit bekannt, keine Feinde, Einstiche am ganzen Körper und so gut wie kein Geld. Trotzdem hatte es nicht nur einen, sondern sogar zwei Mordanschläge auf sie gegeben.
    Der erste lag fast ein Jahr zurück. Bei einem Angriff aus dem Hinterhalt war sie von einer Kugel in den Kopf getroffen worden und ihr siebenunddreißigjähriger Freund ums Leben gekommen. Waltemeyer war damals schon für diesen Fall zuständig gewesen. Obwohl die Akte noch nicht geschlossen war, glaubte er, dass die Schüsse ihrem Freund gegolten und mit Drogen zu tun hatten. Doch als Dollie Brown im März aus der Traumaabteilung des University Hospital entlassen worden war, hatte sie das Pech, auf der Division Street zu stehen, als sich plötzlich ein unbekannter Angreifer auf sie stürzte. Er schlitzte ihr die Kehle auf und rannte weg. Sie überlebte auch das, doch diesmal konnte kein Zweifel bestehen, dass man es tatsächlich auf sie abgesehen hatte.
    Woanders hätten zwei Angriffe in einem Zeitraum von sechs Monaten einen Ermittler zu der Überzeugung kommen lassen, dass man Dollie Brown tatsächlich nach dem Leben trachtete. Aber sie waren schließlich in West Baltimore, wo derartige Vorfälle – bei Fehlen anderer Beweise – schon mal ohne Bedenken als reiner Zufall und nichts anderesbetrachtet werden. Waltemeyer hielt es für viel wahrscheinlicher, dass sich Dollies Onkel einfach ihre Angst zunutze machen und sie um die 5.000 Dollar bringen wollte, die sie nach der Schießerei vom staatlichen Entschädigungsfonds für Verbrechensopfer bekommen hatte, einer Regierungsinstitution, die Menschen finanziell unterstützt, die bei einem Gewaltverbrechen schweren Schaden erlitten haben. Ihr Onkel wusste von dem Geld und hatte seiner Nichte versichert, wenn er die Summe bekäme, würde er den Mann kalt machen, der versucht habe, sie umzubringen.
    Mit Hilfe einer speziellen Undercovereinheit der Maryland State Police ließ Waltemeyer Dollie und ihre Schwester Thelma mit Aufnahmegeräten ausstatten und schickte die beiden unter polizeilicher Beobachtung zu ihrem Onkel. Als der Mann erneut das Geld verlangte, um den drohenden Mord zu verhindern, war der Erpressungsversuch auf Band dokumentiert. Etwa eine Woche später nahm Waltemeyer den Onkel fest und schloss die Akte.
    Im Juli nahm der Fall Dollie Brown groteske Züge an. Zu diesem Zeitpunkt meldete sich ein mutmaßlicher Mörder mit dem ausgesprochen passenden Namen Rodney Vice bei den Ermittlern, um für sich einen Deal herauszuschlagen. Und als Rodney Vice den Mund aufmachte, wurden die Maschen des Komplotts nicht nur enger, sondern zu einem Knäuel.
    Vice hatte als Mittelsmann beim Auftragsmord an Henry Barnes gewirkt, einem Mann mittleren Alters aus West Baltimore, der in einem Kugelhagel gestorben war, als er an einem kalten Morgen im Oktober seinen Wagen warm laufen ließ. Die Frau des Opfers zahlte Vice insgesamt 5.400 Dollar dafür, dass er einen Killer für ihren Mann besorgt hatte, sodass sie eine Reihe von Lebensversicherungen kassieren konnte. Vice hatte einem völlig überspannten Soziopathen namens Edwin »Conrad« Gordon ein Polaroidfoto von Barnes und ein Gewehr in die Hand gedrückt und ihm gesagt, das fragliche Opfer lasse seinen Wagen gewöhnlich am Morgen vor dem Haus warm laufen. Gordon konnte seine Waffe aus nächster Nähe abfeuern, und Henry Barnes verließ diese Welt, ohne zu wissen, was ihn getroffen hatte.
    Alles wäre nach Plan verlaufen, hätte Bernadette Barnes den Mund halten können. Stattdessen gestand sie einer ihrer Kolleginnen beimSozialdienst der Stadt, sie habe den Tod ihres Mannes arrangiert. »Ich habe dir ja gesagt, dass ich es ernst meine«, tuschelte sie der Frau zu. Aufgeregt rief die Mitarbeiterin die Polizei an, und nach ein paar Monaten Ermittlungsarbeit der Detectives aus Stantons Schicht saßen Bernadette Barnes, Rodney Vice und Edwin Gordon im Stadtgefängnis von Baltimore, aneinandergefesselt in einem einzigen Ermittlungsbericht. In dieser Situation ließen Rodney Vice und sein Anwalt durchblicken, sie seien zur Kooperation bereit, wenn sie damit einen Deal von vielleicht zehn Jahren oder weniger herausschlagen konnten.
    Am 11. Juli trafen sich Anwälte und Detectives im Mitchell-Gerichtsgebäude zu einer Vorabbesprechung. Als man Vice fragte, woher er gewusst habe, dass Edwin

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