Homicide
Zeitpunkt mochte das ein beiläufiger Gedanke sein, aber McLarney hatte kurz zuvor einen fünfhundert Seiten dicken Schinken über die Insel Borneo gelesen, seine erste Eroberung aus der Bücherei des Howard County in vielleicht drei Jahren. Ein Fakt ist ein Fakt, und McLarney hatte bereits seit etwa einem Monat versucht, sein Wissen an den Mann zu bringen.
»Stimmt«, sagte Nolan. »Das kommt von der Vulkanasche. Der Krakatau hat alle Inseln dort unter sich begraben …«
McLarney sah ihn an, als wäre soeben sein Hund gestorben.
»… aber der Sand ist nur im westlichen Teil der Insel richtig schwarz. Als ich beim Militär war, haben wir dort Landungen mit Amphibienfahrzeugen geübt.«
»Du warst selbst dort?«
»’63 oder so.«
»Aha«, meinte McLarney, während er sich davonschlich, »ich werde mir nie mehr die Mühe machen, ein Buch zu lesen.«
Für einen Berufspolizisten ist Roger absolut unheimlich und bei jedem Quiz ein gefährlicher Gegner. Garvey, der immer noch eine bequeme Lage auf seinem Metallstuhl zu finden versucht, erliegt den akademischenAusführungen seines Sergeant über das John-Wayne-Rätsel. Er lauscht still, weil ihm sonst nichts anderes übrig bleibt. Es ist zu heiß, den Ermittlungsbericht zu schreiben. Zu heiß, die
Evening Sun
zu lesen, die auf Sydnors Tisch liegt. Zu heiß, hinunter auf die Baltimore Street zu gehen und ein Cheesesteak zu kaufen. Einfach zu heiß.
Hoppla. Ein Anruf.
Garvey schiebt den Stuhl zu Edgertons Schreibtisch und schafft es, am schnellsten nach dem ersten Blöken zum Hörer zu greifen. Sein Einsatz. Sein Geldesel. Seine Fahrkarte nach draußen.
»Morddezernat.«
»Northwest District, Einheit sechs-A-zwölf.«
»Ja, was gibt’s?«
»Ein alter Mann in seiner Wohnung. Keine Anzeichen von Verwundungen oder Ähnliches.«
»Gewaltsames Eindringen?«
»Eh, nein, nichts dergleichen.«
Die Enttäuschung ist Garvey anzumerken. »Wie sind Sie reingekommen?«
»Die Eingangstür stand offen. Der Nachbar war da, um nach ihm zu sehen, und fand ihn im Schlafzimmer.«
»Wohnte er allein?«
»Ja.«
»Und er liegt im Bett?«
»Ja.«
»Wie alt?«
»Einundsiebzig.«
Garvey gibt seinen Namen und seine Personalnummer an. Wenn dieser Officer die Situation vor Ort falsch gedeutet hat und die Rechtsmedizin feststellt, dass es sich um Mord handelt, muss Garvey es büßen. Aber es klingt einigermaßen logisch.
»Brauche ich noch etwas für den Bericht?«, fragt der Cop.
»Nein. Sie haben doch eine medizinische Untersuchung angefordert, oder?«
»Ja.«
»Dann ist das alles.«
Er legt den Hörer wieder auf, wobei sich sein klebrig feuchtes Hemdlangsam vom Stuhlrücken löst. Zwanzig Minuten später klingelt es erneut. Diesmal ist es eine Messerstecherei in der West Side – auch das nichts Aufregendes. Ein Jugendlicher in der Notaufnahme des Universitätskrankenhauses, der andere in einer Zelle des Western, aus der er Garvey und Kincaid durch einen Kokainnebel entgegenblickt.
»Er ist einfach reinspaziert und hat gesagt, er hätte seinen Bruder erstochen«, erklärt der Schließer des Western.
Garvey schnaubt. »Glaubst du etwa, der ist auf Drogen, Donald?«
»Der?«, erwidert Kincaid trocken. »Auf keinen Fall.«
Die Messerstecherei nimmt nicht mehr als zwanzig Minuten in Anspruch, und als sie ins Büro zurückkehren, baut Nolan gerade den Videorekorder ab. Ansonsten nur ein dreifaches Schnarchkonzert, so monoton und gleichmäßig, dass es eine geradezu hypnotische Wirkung hat.
Edgerton ist aus dem Land der Videospiele zurückgekehrt. Jetzt fällt das Team in die schlimmste Art von Schlaf, jene Art, bei der die Detectives erschöpfter aufwachen, als sie eingeschlafen sind, bedeckt mit einer klebrigen Schicht, der verflüssigten Essenz des Morddezernats, die sich nur durch eine zwanzigminütige Dusche entfernen lässt. Immerhin schlafen sie. In einer flauen Nacht schlafen sie alle.
Um fünf Uhr klingelt endlich wieder das Telefon. Allerdings sind sie jetzt über den Punkt hinaus, an dem sie noch einen Einsatz herbeisehnen – einer, der so unbedacht ist, sein Leben nach drei Uhr nachts auszuhauchen, hat es nicht verdient, gerächt zu werden, lautet die allgemeine Ansicht.
»Morddezernat«, sagt Kincaid.
»Morgen. Irwin von der
Evening Sun.
Was haben Sie heute?«
Dick Irwin. Der einzige Mensch in Baltimore, dessen Arbeitszeit noch beschissener ist als die eines Mordermittlers. Anrufe um fünf Uhr morgens für die Deadline um sieben, und das fünf Nächte
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