Homicide

neuer Informationen wurde beschlossen, eine Sondereinheit einzurichten, und Waltemeyer – der sowohl den Erpressungsvorwurf vom März als auch die ersten Schüsse auf Dollie Brown bearbeitet hatte – wurde bald dem Team von Gary Child aus Stantons Schicht zugewiesen. Zu ihm stießen noch Mike Crutchfield, der leitende Ermittler im Fall Bernadette Barnes, und etwas später Corey Belt, die Bulldogge vom Western District, der bei den Cassidy-Ermittlungen so gute Arbeit geleistet hatte. Belt war auf Stantons Bitte hin von der Einsatztruppe im Western District für die Ermittlungen im Fall Geraldine Parris ins Morddezernat zurückgerufen worden.
    Die Detectives begannen mit der ausführlichen Vernehmung von Dollie Brown und anderen Verwandten von Miss Geraldine, und was sie dabei zu hören bekamen, machte die Sache immer unfassbarer. Die ganze Familie schien über Geraldines Machenschaften in all den Jahren Bescheid gewusst zu haben, und sie alle hielten ihren Feldzug zum Tausch von Menschenleben gegen Versicherungspolicen offenbar für einen unausweichlichen, alltäglichen Bestandteil ihrer Familienangelegenheiten. Niemandem war jemals in den Sinn gekommen, die Polizei anzurufen – so wie Dollie, die bei der Sache mit der Erpressung ihre Tante nicht erwähnt hatte. Schlimmer noch, viele Familienangehörige hatten Versicherungspolicen unterschrieben, deren Nutznießer Geraldine war. Nichten, Neffen, Schwestern, Schwäger, Mieter, Freunde und Nachbarn – nach und nach erfuhren die Detectives von Hunderttausenden Dollar in Form von Unfallzusatzversicherungen. Und wenn jemanderschossen worden war, hatte keiner der Mitwisser auch nur die geringste Besorgnis geäußert.
    Sie hatten Angst vor ihr. Zumindest sagten sie das – und zwar nicht nur, weil sie wussten, welche kranken Hirne Geraldine Parrish für ihre Versicherungsmorde anheuerte. Sie fürchteten sie, weil sie ihr besondere Kräfte zuschrieben, weil sie sich mit Voodoo und Zaubersprüchen und allem möglichen hinterwäldlerischem, in Carolina verbreitetem Geisterglauben auskannte. Sie konnte Männer ihrem Willen unterwerfen, sie dazu bringen, dass sie sie heirateten oder für sie töteten. Sie erzählte ihnen von diesen Sachen, und wenn sie dann irgendwie schon halb im Sterben lagen, glaubten sie ihr.
    Doch außerhalb des Familienkreises blieb Tante Geraldines dunkle Macht verborgen. Für andere war sie eine halb gebildete Laienpredigerin, besaß einen grauen Cadillac und ein weißes Steinhaus mit einer Täfelung aus Holzimitat und abgehängten Decken. Ihre massige Statur und ihre Hässlichkeit machten sie zu einer rundherum unattraktiven Frau, und ihre Vorliebe für Perücken und feuerwehrroten Lippenstift ließen eher an eine Prostituierte aus der Pennsylvania Avenue denken, die für zwanzig Dollar zu haben war. So fanden die Detectives die hartgesottene Fünfundfünfzigjährige vor, als sie schließlich ihre Haustür und die ihrer Mutter in der Division Street eintraten.
    Die Durchsuchung der beiden Adressen nimmt Stunden in Anspruch, und Childs, Keller und Waltemeyer finden in den Häusern an allen möglichen Plätzen Heftmappen mit Versicherungspolicen und andere Dokumente. Lange bevor sie in der Kennedy Avenue fertig sind, steigt Geraldine in den hinteren Teil eines Polizeitransporters vom Eastern District und trifft noch vor den Ermittlern im Morddezernat ein. Als Childs und Waltemeyer zurückkehren, sitzt sie ungerührt im großen Vernehmungsraum. Die beiden Detectives verbringen noch etwa eine weitere Stunde im Kaffeeraum und sehen die Versicherungspolicen, Fotoalben und Dokumente durch, die sie beschlagnahmt haben.
    Als Erstes fallen ihnen die vielen Eheurkunden auf. Soweit sie es auf den ersten Blick überschauen können, ist die Frau gleichzeitig mit fünf Männern verheiratet, von denen zwei bei ihr in der Kennedy Avenue wohnten. Die beiden wurden als Zeugen nach der Hausdurchsuchung ins Präsidium gebracht, sitzen nun auf dem Sofa im Aquarium wie zweiBuchstützen und glauben jeweils, der andere sei in dem Haus in East Baltimore nur ein Mieter. Beide sind fest davon überzeugt, in dem Haushalt ihren Platz zu haben. Und beide haben einen Vertrag für eine Lebensversicherung mit Geraldine Parrish oder ihrer Mutter als Nutznießer unterschrieben.
    Johnnie Davis, der ältere der beiden Ehemänner, erzählt den Detectives, er habe Miss Geraldine in New York kennengelernt, und sie habe ihn so eingeschüchtert, dass er sie trotz seiner Einwände geheiratet