Homicide
Falle eines polizeilichen Schusswaffengebrauchs ungeachtet der Uhrzeit auch der für die Schicht verantwortliche Lieutenant ins Büro kommen, um die Ermittlungen zu beaufsichtigen. Dann gibt Nolan Kim Cordwell Bescheid, einer der beiden dem Morddezernat zugewiesenen Sekretärinnen. Auch sie wird Überstunden machen müssen, damit der Tagesbericht bis zum Morgen sauber getippt, kopiert und an alle Chefs verteilt werden kann.
Schließlich machen sich der Sergeant und zwei Detectives auf den Weg zum Tatort. Anrufe werden nach unten in die Zentrale umgeleitet, bis Edergton zum Dienst erscheint und das Büro besetzt ist. Es hat keinen Sinn, jemanden zurückzulassen, überlegt Nolan. Ein polizeilicher Schusswaffengebrauch ist per se ein Red Ball, und ein Red Ball verlangt jeden, der noch kriechen kann.
Sie nehmen zwei Cavaliers, und als sie an dem leeren Parkplatz in einer Seitenstraße der Druid Hill Avenue ankommen, hat sich dort bereits die halbe Sitte vom Western District in Zivil um einen Oldsmobile Cutlass versammelt. Bei ihrem Anblick hat McAllister ein kurzes Déjà-vu-Erlebnis.
»Vielleicht liegt es ja an mir«, sagt er zu Nolan, »aber irgendwie habe ich das Gefühl, das schon mal gesehen zu haben.«
»Ich weiß, was du meinst«, erwidert der Sergeant.
Nach einer kurzen Unterredung mit dem Sergeant der Sitte vom Western kehrt McAllister zu Nolan zurück. Er kann sich ein Grinsen kaum verkneifen.
»Wieder ein zehn achtundsiebzig«, sagt McAllister trocken. Damit hat er einen neuen 10-Code für diesen Fall kreiert. »Ein klassischer Blowjob, abgebrochen durch Polizeischüsse.«
»So ein Mist«, erwidert Kincaid. »Da kann sich ein Mann nicht mal mehr einen blasen lassen, ohne erschossen zu werden.«
»Ja, ist ’ne grausame Stadt«, stimmt ihm Nolan zu.
Drei Monate zuvor hat sich dieselbe Szene auf der Stricker Street abgespielt, und auch hier hatte McAllister die Ermittlung geleitet. In beiden Fällen dasselbe Bild: Der Verdächtige gabelt auf der Pennsylvania Avenue eine Prostituierte auf; der Verdächtige parkt an einem einsamen Platz, lässt die Hose runter und gibt seinen Unterleib für eine 20 Dollar-Fellatio preis. Dem Verdächtigen nähern sich die Sittencops vom Western District in Zivil; der Verdächtige gerät in Panik, macht etwas, wodurch sich die Sittencops bedroht fühlen; der Verdächtige wird von einer Kugel Kaliber 38 getroffen und beschließt den Abend in einer Notaufnahme der Innenstadt, wo er über das relative Glück ehelicher Treue nachdenkt.
Wie der Gesetzesvollzug nun einmal ist, wird die Sache ziemlich unschön werden. Und doch wird das Büro des Staatsanwalts, sofern es genügend Talent und Geschick aufbringt, rechtlich vertretbar damit umgehen können. Im juristischen Sinn können die Schüsse durchaus gerechtfertigt gewesen sein: Als die beiden Officers auf den Abzug drückten, hatten sie sich gewiss in Gefahr gesehen. Als die Cops den Verdächtigen von der Stricker Street aufforderten auszusteigen, griff er nach hinten in seinen Wagen, und aus Angst, er werde eine Waffe hervorholen, schoss ihm einer der Zivilcops ins Gesicht. Bei dem Vorfall an diesem Abend feuerte der Officer durch die Windschutzscheibe, nachdem der Verdächtige bei dem Versuch wegzufahren, einen der Officers mit der Stoßstange gestreift hatte.
Für die Detectives vom Morddezernat hingegen ist ein Polizeischuss schon dann gerechtfertigt, wenn der Officer mit seiner Aktion keine kriminellen Absichten verband und er in dem Moment, wo er von seiner tödlichen Waffe Gebrauch machte, ehrlich glaubte, er oder anderebefänden sich in ernster Gefahr. Das Gesetz lässt an dieser Stelle viel Raum für Auslegungen, eine Lücke, in das der sprichwörtliche Lkw passt, und in diesen beiden Fällen wird das Morddezernat ohne Skrupel jeden Zentimeter dieses Abgrunds ausnutzen. Jeder Cop, der ein oder zwei Jahre auf der Straße gearbeitet hat, kennt die Ambivalenz, mit der die Ermittlungen im Fall eines polizeilichen Schusswaffengebrauchs behaftet sind. Würde man Nolan oder McAllister am Tatort fragen, ob sie den Schuss wirklich für gerechtfertigt hielten, würden sie mit Ja antworten. Würde man sie aber fragen, ob dieser Schuss gute Polizeiarbeit sei, würden sie eine ganz andere, wahrscheinlich aber überhaupt keine Antwort geben.
Wenn es um die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden geht, gehört Täuschung zum Geschäft. In jeder größeren Polizeiabteilung beginnt die Untersuchung des Schusswaffengebrauchs durch
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