Homicide
vergessen hat, wann zur Hölle er zur Arbeit antreten sollte.
Aber Kincaid wird noch sagen, was er zu sagen hat, so viel steht fest. Die Bereitschaft, ihm entgegenzukommen, die Frotzeleien und das freundliche Geplänkel, die allgemeine Anerkennung, die Edgerton gezollt wurde, weil er sich bemühte, mehr Einsätze anzunehmen – all das ist für Donald Kincaid keinen Pfifferling mehr wert. Er hat genug von diesem Kinderkram. Er hat genug von Edgerton und Nolan und von seinem Platz in diesem gottverdammten Team. Laut Plan hast du um 23Uhr 40 da zu sein, und du bist um 23 Uhr 40 da, keine Minute später. Laut Plan bist du am Dienstag in der Nachtschicht, also erscheinst du am Dienstag zur Arbeit. Er hat dem Dezernat nicht zweiundzwanzig Jahre seines Lebens gewidmet, um sich mit solchem Schwachsinn abzufinden.
Roger Nolan hingegen möchte einfach nichts mehr davon hören. In seinen Augen ist Edgerton ein guter Mann, der intensiver an seinen Fällen arbeitet als die meisten im Dezernat, und außerdem klärt er wieder Morde auf. Okay, hin und wieder schwebt Harry irgendwo in den Wolken. Deshalb hat er sich mit der Schicht geirrt. Aber was soll er machen? Ihn ein 95er-Formular ausfüllen lassen, in dem er erklärt, warum er manchmal nicht ganz von dieser Welt ist? Oder ihn zu ein paar Tagen Urlaub verdonnern? Wozu soll das gut sein? Dieser Blödsinn hat schon im Streifendienst nicht funktioniert, und ganz gewiss ist das nicht die Art, wie man im Morddezernat mit so etwas umgehen kann. Sie alle wussten noch, wie Landsman einmal für einen Vorgesetzten in einem 95er aufführen sollte, warum er zu spät zur Schicht gekommen war. »Mein verspäteter Dienstantritt beruht darauf«, schrieb Landsman, »dass ich beim Verlassen meines Hauses ein in meiner Einfahrt geparktes deutsches U-Boot vorfand.« Wie auch immer, das Morddezernat ist, wie es ist, und Nolan hat nicht vor, sich den einen Detective vorzuknöpfen, damit sich ein anderer besser fühlt.
Doch der Mittelweg ist inzwischen verbaut. Am nächsten Morgen kann Kincaid seine Wut noch zügeln und schweigt. Und bei ihrer beider Dienstantritt am Freitag schenkt er Edgerton nur ein paar beiläufige Worte.
»Ich mache Harry keinen Vorwurf«, erklärt Kincaid den anderen. »Den Vorwurf mache ich Roger, weil er nicht dafür sorgt, dass er sich zusammenreißt.«
Doch in den nächsten Tagen steigert sich Kincaids Ärger bis zur Weißglut, und die anderen – McAllister, Garvey, sogar Bowman, der in diesem Konflikt eigentlich auf Kincaids Seite steht – sind schlau genug, sich nicht einzumischen und der Sache aus dem Weg zu gehen. Schließlich, bei einer Spätschicht an einem Tag, an dem Edgerton wieder einmal freihat, kommt es zum unvermeidlichen Ausbruch. Der Nachmittag besteht nur aus Schreien und Flüchen, aus Vorwürfen undGegenvorwürfen, und am Ende brüllen sich Nolan und Kincaid gegenseitig an. Sie verfeuern ihre Munition in einem Gefecht, bei dem nur noch verbrannte Erde zurückbleiben kann. Nolan lässt keinen Zweifel daran, dass er Kincaid für einen Störenfried hält, sagt ihm, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, und wirft ihm dann auch noch vor, er arbeite nicht intensiv und lange genug an seinen Fällen. Es stimmt zwar, dass ein hübscher Teil der ungelösten Fälle der letzten beiden Jahre auf Kincaids Kappe geht, aber fairerweise muss man auch sagen, dass Nolan ihn in einer Art und Weise kritisiert, die kein erfahrener Detective erträgt. Und so wird Donald Kincaid gehen, sobald in einem anderen Team ein Platz frei ist.
Nachdem sich in Roger Nolans Mannschaft seit einem Jahr Risse gezeigt haben, bricht sie schließlich auseinander.
ACHT
D er Anblick, die Geräusche, die Gerüche – nichts im Leben eines Detective lässt sich mit diesem Kellerraum in der Penn Street vergleichen. Selbst die Tatorte in all ihrer Tristheit und Brutalität verblassen, wenn man sieht, wie die Ermordeten seziert und untersucht werden: Es ist durch und durch befremdlich.
Das Gemetzel dient einem Zweck, all das Blut der aufgeschnittenen Leichen ist von echtem Wert für die Ermittlungen. So klar dem vorurteilsfreien und logisch urteilenden Geist die juristische Notwendigkeit einer Post-mortem-Untersuchung ist, so irritierend ist doch der konkrete Vorgang. Soweit sich ein Detective als professionell betrachtet, ist der Arbeitsraum eines Rechtsmediziners für ihn ein Labor. Für seine andere Seite aber, die sich als abgebrühtes, doch menschlich empfindendes Wesen
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