Homicide
nötigen Informationen, um die Aufrichtigkeit von Zeugen und Verdächtigen abschätzen zu können. Das Autopsieergebnis verrät dem Detective ein paar Dinge, die in den letzten Augenblicken des Opfers definitiv passiert sind. Auch ein paar Dinge, die nicht passiert sein können. Nur selten in der Laufbahn eines Detective tritt der glückliche Fall ein, dass diese wenigen Dinge tatsächlich einmal eine Rolle spielen.
Die Untersuchung durch einen Rechtsmediziner ist daher nie ein unabhängiger Prozess, sondern vollzieht sich im Zusammenspiel mit dem, was der Detective am Tatort und in den Vernehmungen bereits in Erfahrung gebracht hat. Ein junger Rechtsmediziner, der meint, Ursache und Art des Todes könnten allein durch die Untersuchung der Leiche ermittelt werden, ist auf dem Holzweg. Die besten Rechtsmediziner lesen erst einmal den Polizeibericht und schauen sich die Tatortfotos an. Ohne diesen Kontext ist die Obduktion zwecklos.
Kontextualisierung ist auch der Grund, warum der Mordermittler möglichst bei der Autopsie anwesend sein sollte. Im Idealfall tauschen Cop und Schnetzler ihr Wissen aus, sodass am Ende beide mehr wissen. Häufig herrscht zwischen beiden eine gewisse Spannung, weil der Mediziner wissenschaftlich argumentiert, der Detective hingegen die Erfahrungen einbringt, die er auf der Straße gesammelt hat. Nur ein Beispiel: Ein Rechtsmediziner entdeckt kein Sperma und keinen Scheidenrissund schließt daraus, dass das nackt im Druid Hill Park aufgefundene Opfer nicht vergewaltigt wurde. Ein Detective aber weiß, dass viele Sexualtäter nicht ejakulieren können. Außerdem ging sein Opfer zeitweise der Prostitution nach und war dreifache Mutter. Was bedeutet es da, dass keine Vaginaverletzung vorliegt? Oder ein Detective hat eine Leiche mit einem aufgesetzten Schuss in der Brust, einem zweiten aufgesetzten Schuss am Kopf und etlichen Blutergüssen und Prellungen am Rumpf vor sich und denkt daher, dass er es mit Mord zu tun hat. Aber die beiden Kontaktwunden könnten auch von einem Selbstmordversuch herrühren. Es gibt von Rechtsmedizinern dokumentierte Fälle, bei denen sich ein Selbstmörder wiederholt vergeblich in die Brust oder in den Kopf schoss – vielleicht, weil im letzten Moment seine Hand zuckte, vielleicht, weil die ersten Schüsse nicht zum Tode führten. Und die Blutergüsse im Brustbereich – obwohl dem Anschein nach das Werk eines Mörders – könnten von Familienangehörigen stammen, die die Schüsse hörten, herbeistürmten und eine Herz-Lungen-Massage durchführten. Kein Abschiedsbrief? Fakt ist: In 50 bis 75 Prozent aller Selbstmordfälle werden keine schriftlichen Mitteilungen hinterlassen.
Die Beziehung zwischen dem Detective und dem Rechtsmediziner ist zwangsläufig symbiotisch, aber die gelegentlichen Spannungen zwischen den beiden Disziplinen beruhen auch auf gewissen Klischees. Ein Detective ist der festen Überzeugung, dass jeder neue Rechtsmediziner nur Lehrbuchwissen aus seinem Medizinstudium mitbringt, das kaum etwas mit der Realität zu tun hat. Ein frischgebackener Mediziner muss daher erst geschmeidig gemacht werden wie ein neues Schulterholster. Im Gegenzug halten die Rechtsmediziner die überwiegende Mehrheit der Mordermittler für bessere Streifenpolizisten ohne richtige Ausbildung und wissenschaftliche Kenntnisse. Je weniger erfahren der Detective, desto mehr hält ein Rechtsmediziner ihn für einen Amateur in der hohen Kunst, Todesursachen zu ermitteln.
Ein oder zwei Jahre zuvor waren Donald Warden und Rich Garvey mit einem Mordopfer, das durch eine Schrotflinte zu Tode gekommen war, zufällig im Obduktionssaal, als John Smialek, der oberste Rechtsmediziner von Maryland, einer Gruppe von angehenden Fachärzten eine Einführung gab. Smialek war noch neu in Baltimore; er war vorher in Detroit und Albuquerque gewesen, weshalb er Worden wohlnicht für erfahrener oder unerfahrener hielt als jeden anderen Polizeiermittler.
»Detective«, fragte er Worden vor der ganzen Gruppe, »können Sie mir sagen, ob das Eintritts- oder Austrittswunden sind?«
Worden blickte auf die Brust des Toten. Kleine Eintritts-, große Austrittswunde, lautet die Faustregel für Schusswunden, aber mit 12 Gauge Schrotmunition kann auch die Eintrittswunde ziemlich grässlich aussehen. Bei einem Schuss aus geringer Entfernung lässt sich das nicht so leicht sagen.
»Eintrittswunden.«
»Das hier«, erklärte Smialek und wandte sich triumphierend zu den angehenden Fachärzten, »sind
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