Homicide
Generalmobilmachung, keine Kriegserklärung. Es ist Oktober; sie haben ihr Pulver verschossen.
Dass Edgerton den Fall bekommen hat ist, macht ihnen das Ganzeleichter. Er wäre der letzte unter den Detectives von D’Addarios Schicht, der zusätzliche Kräfte anfordern würde. Natürlich ist Nolan mit von der Partie; Nolan arbeitet immer mit Edgerton zusammen. Aber abgesehen von Sergeant Nolan kümmern sich alle anderen ausschließlich um ihre eigenen Fälle. Und wenn Edgerton doch Hilfe bräuchte, er wüsste gar nicht, wie er sie darum bitten sollte. Nicht bloß am Fundort der Leiche, er arbeitet die ganze Zeit allein. So soll es sein.
Noch am Fundort nimmt Edgerton sich vor, nicht die Fehler zu wiederholen, die er in der Akte von Latonya Wallace begraben glaubt, und falls es doch so weit käme, allein damit fertig zu werden. Schließlich hatte sich Tom Pellegrini vor seinen Augen fast das ganze Jahr mit eingebildeten und wirklichen Ermittlungsfehlern herumgequält. Sicher, jeder ungelöste Fall hinterlässt Selbstzweifel. Aber Edgerton weiß auch, dass Pellegrini das Gefühl nicht loswurde, der Fall sei außer Kontrolle geraten, gerade weil man ihn zu einem Red Ball gemacht hatte. Landsman, Edgerton, Eddie Brown, die zusätzlichen Officers der Sonderkommission – mit ihnen allen hatte sich Tom auseinandersetzen müssen, vor allem mit den erfahreneren Detectives, die schon so viel länger dabei waren als Pellegrini und daher auch stärker dazu neigten, dem Fall ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Nun, denkt Edgerton, das war Toms Problem gewesen. Ich werde es nicht haben.
Vor allem hat er einen Tatort – nicht bloß die Stelle, an der sich der Täter der Kinderleiche entledigt hat, sondern den Ort, an dem der Mord wirklich begangen wurde. Edgerton und Nolan waren allein auf dem Einsatz, und diesmal hatten sie sich Zeit gelassen mit der Leiche. Sie erledigten alles in der richtigen Reihenfolge und ließen das Mädchen liegen, bis sie wirklich fertig waren. Noch am Tatort steckten sie die Hände des Opfers in Tüten und hielten sorgfältig die Anordnung der Kleidung fest. Dabei fiel ihnen auf, dass das Mädchen zwar vollständig bekleidet war, aber die Jacke und die Bluse nicht richtig zugeknöpft waren.
In enger Zusammenarbeit mit der Spurensicherung gelang es Edgerton, mehrere Haare von der Bluse des Opfers zu bergen, und er notierte sorgfältig auch die kleinsten Abschürfungen und Verletzungen. Beim Absuchen des Geländes fand er eine einzelne 22er-Patronenhülse. Allerdings sah die Kopfwunde nach einem größeren Kaliber aus. Beieiner Fleischwunde kann das ein Detective kaum bestimmen, weil sich die Haut über der Eintrittsstelle der Kugel zusammenzieht, sodass das Loch stets kleiner aussieht. Aber bei einem Kopfschuss entspricht das Einschussloch exakt dem Umfang der Kugel. Auf den ersten Blick schien die 22er-Patronenhülse nichts mit dem Mord zu tun zu haben.
Eine Blutspur gab es nicht. Edgerton untersuchte an der Fundstelle sorgfältig Kopf und Hals des Opfers, bis er sich überzeugt hatte, dass sie nur an dem niedrigen Ziegelfundament Blut verloren hatte. Demnach hatte der Mörder sie offenbar dorthin geführt, auf die Knie gezwungen und sie dann durch einen Schuss in den Hinterkopf regelrecht hingerichtet. Es gab auch keine Austrittswunde, und bei der Autopsie wird man später ein glattes, erstaunlich intaktes Projektil vom Kaliber 32 finden. Außerdem wird der Vaginalabstrich Samenflüssigkeit aufweisen, die mit genügend Blut des Täters vermischt ist, um seine Blutgruppe festzustellen und einen DNA-Test zu ermöglichen, mit dem man einen Verdächtigen sicher überführen kann. Anders als im Fall Latonya Wallace hat der Mörder von Andrea Perry also reichlich Spuren hinterlassen.
Die Befragung der beiden jungen Männer, die von den ersten Uniformierten am Tatort aufs Präsidium geschickt worden waren, bringen kein Ergebnis. Offenbar hatten sie die Tote nicht einmal selbst entdeckt. Der eine wollte von dem anderen davon erfahren haben, und der sagte aus, er sei auf der Baltimore Street unterwegs gewesen, als ihn eine ältere Frau ansprach und auf eine Leiche hinwies, die hinter den Häusern liegen würde. Er hätte gar nicht erst nachgeschaut, erzählt er Edgerton, sondern habe es gleich dem anderen erzählt, und der habe einen Streifenwagen angehalten. Wer denn die ältere Frau gewesen sei? Keine Ahnung.
Die Ermittlungen nehmen ihren Lauf, Edgerton arbeitet bedächtig und nimmt sich Zeit. Bei
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