Homicide
hinter den Häusern und die Ruine der Garage ausgewählt, damit ihn niemand bei seinem Mord beobachten konnte. Er hatte das Mädchen erschossen, um nicht als Vergewaltiger überführt zu werden, weshalb also sollte er schießen, wenn jemand anders in der Nähe war? Edgerton ist sich sicher, dass der Täter mit dem Mädchen in den Höfen hinter den Häusern umhergestrichen war, bis er eine Stelle gefunden hatte, an der er sich unbeobachtet fühlte. Erst dann hatte er sie zur Ziegelmauer hinuntergedrückt. Erst dann hatte er seine Waffe herausgeholt.
Gary Dunnigan, der den anonymen Anruf entgegengenommen hat,schreibt einen Bericht und gibt ihn Edgerton für die Akte. Edgerton nimmt es zur Kenntnis und lässt den Namen der Frau durch den Computer laufen, um sich zu vergewissern, dass er sie nicht doch als Tatverdächtige behandeln muss. Er befragt sogar ihre Nachbarn und Verwandten und bringt so einiges über sie in Erfahrung. Das genügt ihm vorerst. Sie selbst aber lässt er in der ersten Woche der Ermittlungen in Ruhe.
Schließlich erscheint die Geschichte ziemlich unlogisch, und außerdem liefern die Befragungen der Nachbarschaft weit bessere Informationen. Jemand behauptet, der Mord sei ein Racheakt an einem Verwandten des Mädchens gewesen, ein anderer schildert ihn als brutale Tat eines Dealers, der den Leuten im Viertel einfach mal zeigen wollte, dass mit ihm nicht zu spaßen sei. Man redet über zwei rivalisierende Drogenhändler, die beide kein hieb- und stichfestes Alibi haben.
Zur Belustigung der anderen Detectives kommt Edgerton endlich einmal jeden Morgen in aller Frühe ins Dezernat, schnappt sich die Schlüssel eines Cavalier und verschwindet in West Baltimore. Nachmittags bleibt er meist lange über den Schichtwechsel hinaus im Dienst, und oft fährt er erst am späten Abend nach Hause. An einigen Tagen bricht er mit Nolan auf, an anderen zieht er solo los, wohin, ist allen ein Rätsel. Allein auf den Straßen, kann Edgerton mehr erreichen als mancher andere mit Partner. Er weiß den Vorteil zu nutzen, als Einzelgänger unterwegs zu sein, was seine Kritiker nicht einsehen wollen. Einige Detectives des Morddezernats würden niemals ohne Partner in die Ghettos fahren, nach West Baltimore wagen sie sich immer nur zu zweit.
»Brauchst du Begleitung?«, lautet die Routinefrage. Und wenn sich doch mal ein Ermittler allein in die Slums traut, gibt man ihm gute Ratschläge mit auf den Weg: »Sei bloß vorsichtig, Kumpel, lass dich nicht drankriegen.«
Edgertons Distanziertheit ermöglicht ihm die Erkenntnis, dass das Gemeinschaftsgefühl im Dezernat auch ein Hindernis sein kann. Wenn Edgerton allein durch die Hochhaussozialsiedlungen streift, treibt er meist auch Zeugen auf, während andere Detectives, die zu zweit oder dritt unterwegs sind, häufig genug mit leeren Händen zurückkommen. Gerade die brauchbarsten und bereitwilligsten Zeugen sprechen eben eher mit einem Detective als mit zweien, während es unwillige undmisstrauische Zeugen schon als Razzia ansehen, wenn Detectives gleich zu dritt anrücken. Am Ende gibt es nur eins: Wer einen Mord aufklären will, der muss seinen Hintern hochkriegen, raus auf die Straße gehen und Zeugen auftreiben.
Alle guten Detectives wissen das. Auch Worden liefert oft die besten Ergebnisse, wenn er allein in einem Cavalier loszieht und in aller Ruhe mit Leuten spricht, die abweisend reagieren würden, wenn außerdem noch James und Brown in der Tür stehen würden. Aber es gibt eben Detectives im Dezernat, die sich das nicht zutrauen.
Edgerton sind solche Ängste fremd, und diese Einstellung ist sein Schutzschild. Zwei Monate zuvor war er draußen Ecke Edmondson und Payson bei einem Drogenmord, und ohne groß nachzudenken, verließ er den Tatort und ging allein das verrufenste Stück der Edmondson Avenue hinunter, geradewegs durch ein Grüppchen junger Dealer, unbekümmert wie Charlton Heston in einem Studio von Universal. Er suchte Zeugen, oder zumindest jemanden, der bereit war, einem Cop zuzuflüstern, was eine Stunde zuvor auf der Payson Street geschehen war. Aber er erntete nur finstere Blicke und kalte Wut aus fünfzig schwarzen Gesichtern.
Doch er ging unbeirrt weiter, ohne von der Feindseligkeit Notiz zu nehmen, bis er an der Ecke Edmondson und Brice einen Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen dabei beobachtete, wie er eine Papiertüte an einen Älteren weiterreichte, der damit um die Ecke verschwand. Das war die Gelegenheit, auf die Edgerton gewartet hatte.
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