Homicide
ihrer ersten Befragung im Viertel haben die Polizisten des Western District ganze Arbeit geleistet. Trotzdem verbringt Edgerton Tage damit, eine Skizze der umliegenden Blocks anzufertigen, in die er alle Einwohner einträgt und sie mit ihren Polizeiakten und Alibis verknüpft. Es ist eine raue Gegend, direkt an der Grenze des Western zum Southern District gelegen. Einen Block entfernt in der Vine Street blüht der Drogenhandel. Das lockt viele zwielichtige Gestaltenan, was die Liste der möglichen Verdächtigen beträchtlich vergrößert. Genau solche Ermittlungen sind Edgertons Spezialität, hier kann er alle seine Stärken ausspielen: Besser als jeder andere Detective im Dezernat versteht er es, ein Viertel zu beackern, bis ihm jeder zweite Passant etwas zuraunt.
Zum Teil liegt das an seinem Aussehen – schwarz und gertenschlank, mit seinem gepflegten Äußeren, seinem grau melierten Haar und seinem buschigen Schnurrbart, wirkt Edgerton lässig und attraktiv. Es kommt vor, dass sich am Tatort Mädchen aus dem Viertel am Absperrband aufbauen und zu kichern anfangen. Detective Edge nennen sie ihn. Im Unterschied zu den meisten Kollegen hat Edgerton seine eigenen Informanten, nicht selten schwarze Mädchen, achtzehnjährige Yoettes, deren Freunde sich draußen auf der Straße Schießereien um Drogen und Goldkettchen liefern. Manchmal, wenn ein durchlöcherter Dealer mit Blaulicht in die Hopkins Clinic gefahren wird, erscheint auf Edgertons Pieper die Nummer eines Münzetelefons von der Eastside, noch bevor der Rettungswagen angekommen ist.
Edgerton bewegt sich im Ghetto mit einer Leichtigkeit, wie sie auch dem besten weißen Detective niemals möglich sein wird. Und besser als die meisten seiner schwarzen Kollegen erreicht er es, dass seine Gesprächspartner einfach vergessen, einen Cop vor sich zu haben. Nur Edgerton kommt auf die Idee, in der Notaufnahme des University Hospital einem verwundeten Mädchen das Blut von den Händen abzuwaschen. Nur Edgerton bringt es fertig, auf dem Rücksitz eines Streifenwagens in der Hollins Street eine Zigarette mit einem Dealer zu rauchen und beim Aussteigen eine komplette Aussage zu haben. Edgerton schafft es, in kleinen Imbissläden, im Wartezimmer eines Krankenhauses, in der Diele eines Reihenhauses spontane, aber stabile Beziehungen zu Menschen zu knüpfen, die eigentlich keinen Grund haben, einem Detective zu vertrauen. Und nun, im Fall Andrea Perry, einem der wahren Opfer, gelingt ihm dies noch viel besser.
Von der Familie und den Leuten im Viertel erfährt er, dass das Kind am Abend zuvor gegen acht Uhr zuletzt gesehen wurde, als es seine achtzehnjährige Schwester zur Bushaltestelle auf der West Baltimore Street begleitete. Die Schwester sagt, sie habe Andrea Richtung Norden zum 1800er-Block der Fayette gehen sehen, also nach Hause. Alsdie ältere Schwester um elf Uhr heimkehrte und ihre Mutter schon schlafend fand, ging sie ebenfalls zu Bett. Erst am nächsten Morgen bemerkte die Familie, dass das Kind gar nicht nach Hause gekommen war. Sie gaben eine Vermisstenanzeige auf und klammerten sich an die Hoffnung – bis die Abendnachrichten die Bilder aus dem benachbarten Block sendeten.
Doch schon wenige Tage später war das Interesse der Medien an dem Fall erloschen. Der Mord an Andrea Perry wird von der Stadt nicht einmal ansatzweise als Red Ball behandelt. Warum eigentlich nicht?, fragt sich Edgerton, während die Tage verstreichen. Vielleicht liegt es daran, dass das Opfer diesmal ein Jahr älter ist, vielleicht, dass ihr Viertel etwas heruntergekommener ist und nicht so nah am Stadtzentrum liegt wie Reservoir Hill. Jedenfalls verlieren die Zeitungen und Fernsehstationen rasch das Interesse an der Geschichte, weshalb auch die Flut von anonymen Tipps ausbleibt, die den Tod von Latonya Wallace kennzeichnete.
Der einzige anonyme Anruf kommt schon wenige Stunden nach der Entdeckung der Leiche. Ein Mann mit einer auffällig hohen Stimme nennt den Namen einer Frau aus West Baltimore, die aus dem Hinterhofareal weggerannt sein soll, nachdem Schüsse zu hören waren. Edgerton misst dem Anruf keine Bedeutung bei. Der Täter war keine Frau, das zeigen schon die Samenspuren. Der Täter konnte nur ein Mann gewesen sein. Und die Tat hatte er mit Sicherheit allein begangen, weil an solchen Verbrechen nie ein anderer Mann, geschweige denn eine Frau, beteiligt ist.
Aber vielleicht war die geheimnisvolle Frau eine Zeugin? Blödsinn, denkt Edgerton. Der Täter hatte das Gelände
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