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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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Ruhe?«
    »Vielleicht«, antwortet Worden. Dave Brown steht auf und fischt eine Münze aus seiner Hosentasche. Er wirft Worden den Quarter hin, dann setzt er sich wieder und vergräbt das Gesicht in der Zeitschrift. Worden gibt ihm gut zehn Sekunden.
    »De-
tec
-tive Brown …«

NEUN
    Donnerstag, 13. Oktober
    I m Grunde ist es das gleiche Verbrechen. Nur dass sie diesmal nicht erstochen oder erwürgt wurde, sondern erschossen. Diesmal ist der kleine Körper ein wenig fülliger, und sie trägt das Haar offen, nicht in Zöpfen gebändigt und unter eine bunte Baskenmütze gesteckt. Diesmal lässt die Samenflüssigkeit, die beim Vaginalabstrich gefunden wird, keinen Zweifel daran, dass es zu einer Vergewaltigung gekommen ist. Diesmal verschwand sie nicht auf dem Weg zur Bücherei, sondern zu einer Bushaltestelle. Und diesmal ist das tote Mädchen ein Jahr älter, zwölf anstatt elf. Aber sonst ist es in allen wesentlichen Punkten das Gleiche.
    Neun Monate, nachdem Latonya Kim Wallace hinter den Häusern von Reservoir Hill gefunden wurde, steht Harry Edgerton in einem Hinterhof von Baltimore wieder vor dem Werk des Bösen schlechthin. Der vollständig bekleidete Leichnam liegt zusammengekrümmt vor einem alten Garagenfundament hinter einem leer stehenden Haus des 1800er-Blocks der West Baltimore Street. Die Schusswunde ist am Hinterkopf – dem Augenschein nach stammt sie aus einer 32er oder 38er –, und die Waffe wurde aus nächster Nähe abgefeuert.
    Ihr Name ist Andrea Perry.
    Und ihre Mutter weiß Bescheid, als sie in den Abendnachrichten sieht, wie eine Bahre von Mitarbeitern der Rechtsmedizin aus dem Hofgelände getragen wird, nur einen Block von ihrer Wohnung in der Fayette Street entfernt. Andrea wurde erst seit dem Vorabend vermisst, und zunächst hielt man das noch nicht identifizierte Opfer, über das das Fernsehen berichtet, für ein älteres Mädchen oder eine junge Frau. Trotzdem weiß ihre Mutter sofort Bescheid.
    Die Identifizierung in der Penn Street ist eine herzzerreißende Szene. Sie geht selbst den Mitarbeitern der Rechtsmedizin unter die Haut, obwohl sie so etwas vier oder fünf Mal am Tag mitmachen. Später, im Büro der Mordkommission, bricht die Mutter vollkommen zusammen, kaum dass Roger Nolan ihr die ersten Fragen stellt.
    »Gehen Sie nach Hause«, sagt er zu ihr. »Wir reden morgen.«
    Etwa zur gleichen Zeit steht Edgerton im Autopsiesaal. Wieder einmal muss er bei der Obduktion eines ermordeten Kindes zuschauen. Doch dieses Mal ist Edgerton der leitende Ermittler. Eigentlich ist er der einzige Detective, der diesen Fall bearbeitet. Und dieses Mal, das schwört er sich, wird die Sache anders ausgehen.
    Aber dass der Fall Andrea Perry nun vom größten Einzelgänger des Morddezernats ganz allein bearbeitet wird, ist ein wenig grotesk: Man stelle sich vor, ein Ein-Mann-Red-Ball!
    Der Mord an Andrea Perry trägt alle Anzeichen eines großen Falls – ein totes Kind, brutal vergewaltigt und ermordet, die Hauptmeldung in den Sechs-Uhr-Nachrichten –, dennoch gibt es diesmal keine Sonderkommission, kein Riesenaufgebot an Detectives am Fundort der Leiche, keine Suchaktion mit Polizeischülern am nächsten Tag. Und auch von der Polizeiführung lässt sich niemand blicken.
    Das hätte auch der Fall sein können, wenn jemand anderes als Edgerton den Fall übernommen hätte. Schließlich hatten sich D’Addarios Leute in diesem Jahr schon einmal gemeinschaftlich verausgabt, die Energie der gesamten Schicht auf einen einzigen Fall konzentriert. Und sie hatten für ein kleines Mädchen zusätzliche Kräfte aus den Districts angefordert. Für diesen einen Fall, der nach Gerechtigkeit schrie, hatten sie ihre aussichtsreichsten Tatverdächtigen Wochen und Monate verfolgt, andere Fälle wegen dieses einen, kleinen Lebens liegen gelassen. Ausgezahlt hatte es sich jedoch nicht. Irgendwann standen sie im Fall Latonya Wallace vor dem Nichts. Wieder einmal hatten sie erleben müssen, dass noch so viel Aufwand an Geld und Zeit nichts bringt, wenn man keine ordentlichen Beweise in der Hand hat. Am Ende war es nur noch ein offener Fall unter anderen. Gewiss, ein besonders tragischer, aber letztlich doch nur ein ungelöster Mord von vielen, betreut von einem einzelnen Detective.
    Erfolg zieht Erfolg nach sich; für den Misserfolg gilt leider dasselbe Prinzip. Nachdem die Detectives in dem einen Mädchenmord keine Verhaftung zustande gebracht haben, fällt ihnen zum zweiten wenig ein. Für Andrea Perry gibt es keine

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