Homicide
Unter den verächtlichen Blicken der Umstehenden packte er den Jugendlichen am Arm und schleifte ihn zu seinem Cavalier, den er um die Ecke geparkt hatte. Dort nahm er den Teenager in die Mangel, ihm was über den Mord zu erzählen.
Ein Streifenpolizist des Western District, der die Szene aus zwei Block Entfernung beobachtet hatte, mahnte Edgerton später zur Vorsicht.
»Sie hätten da nicht alleine hingehen sollen«, sagte er. »Das hätte auch schiefgehen können.«
Edgerton schüttelte nur den Kopf.
»Das meine ich ernst, Mann«, sagte der Uniformierte. »Sie haben nur sechs Kugeln.«
»Nicht einmal das«, antwortete Edgerton lachend. »Ich habe nämlich meinen Revolver vergessen.«
»W AS ?«
»Ja, wirklich. Er liegt in meiner Schreibtischschublade.«
Ein Cop Ecke Edmondson und Brice ohne Waffe – die Uniformierten waren baff. »Unser Job«, erklärte ihnen Edgerton gelassen, »besteht zu neunzig Prozent aus der richtigen Einstellung.«
Der Mordfall Andrea Perry führt Edgerton nun wieder in ein Viertel von West Baltimore, in das er eintaucht, wie es nur wenige Polizisten können. Er redet mit den Bewohnern sämtlicher Häuser, die an das Hinterhofgelände angrenzen, er spricht mit den Tagedieben in Imbissen und Bars. Er arbeitet sich von der Bushaltestelle bis zum Haus des Opfers in der Fayette Street vor und fragt jeden, auf den er trifft, ob er das Kind in Begleitung eines Erwachsenen gesehen hat. Als dabei nichts herauskommt, besorgt er sich Akten über frühere Sexualstraftaten im Southern und Western District.
Edgerton legt großen Wert darauf, gleich zu Beginn der Ermittlungen die Einsatzleiter des Southern, Southwestern und Western District zusammenzutrommeln und sie über den Fall zu informieren. Dabei schärft er ihnen ein, ein Auge auf alle zu haben, die sich irgendwann einmal an minderjährigen Mädchen vergriffen, an einer Entführung beteiligt haben oder mit einer Waffe vom Kaliber 32 aufgefallen sind. Edgerton bittet die drei Einsatzleiter, ihn bei allem, was auch nur im Entferntesten mit der Sache zu tun haben könnte, anzurufen. Auch dies ist anders als im Fall Latonya Wallace, bei dem sich das Morddezernat Verstärkung aus den Districts geholt hatte – nun fährt Edgerton selbst in die Dienststellen, wenn er etwas braucht.
Nur einmal, am Tag nach dem Fund der Leiche, gibt es ansatzweise eine Gemeinschaftsanstrengung, wie sie sonst bei einem Red Ball üblich ist: Nolan bittet der Form halber McAllister, Kincaid und Bowman, ihnen einen Tag lang bei den Befragungen im Viertel zu helfen.
Als sich die anderen Detectives an diesem Tag die Fallakte durchlesen, fragen sie sich laut, warum Edgerton nicht unverzüglich dem anonymen Anruf nachgegangen ist. Zumindest, meinen sie, hätte er rausfahren und sich die Frau vorknöpfen sollen, die der männliche Anrufer angeblich vom Gelände weglaufen sah.
»Das wäre in meinen Augen das Dümmste überhaupt«, sagt Edgerton, als er Nolan seine Vorgehensweise erklärt. »Was soll ich mit ihr machen, wenn ich sie hierher geschleift habe? Ich kann ihr nur eine einzige Frage stellen, und das war’s dann.«
Nach Edgertons Verständnis gehört das zu den häufigsten Fehlern – ein Fehler, den man sich seiner Ansicht nach auch im Fall Latonya Wallace mit dem Fish Man geleistet hatte: Dass man jemanden aufs Präsidium bringt und ohne richtige Munition im Vernehmungsraum auf ihn losgeht. Eine Stunde später spaziert der Tatverdächtige dann mit gestärktem Selbstbewusstsein zur Tür hinaus. Sollte man später doch noch irgendwas gegen ihn in die Hand bekommen, ist es doppelt so schwer, noch an ihn heranzukommen und ihn im zweiten Anlauf zu brechen.
»Wenn ich sie frage, warum sie weggelaufen ist, wird sie antworten, dass sie nicht weiß, wovon ich rede«, erklärt Edgerton Nolan. »Und damit hat sie dann sogar recht. Ich weiß es ja selbst nicht.«
Er glaubt noch immer nicht, dass die namentlich genannte Frau wirklich vom Schauplatz der Tat fortgelaufen ist. Doch selbst wenn, würde er kein Verhör riskieren, solange er nicht Chancen auf Erfolg sähe.
»Wenn alle Stricke reißen, hole ich sie hierher und stelle ihr eben meine eine Frage«, sagt der Detective, »aber eher nicht.«
Nolan pflichtet ihm bei. »Es ist dein Fall«, meint er. »Mach, wie du denkst.«
Abgesehen von der begrenzten Hilfe seines Teams bei der ausgedehnten Befragungsaktion bearbeitet Edgerton den Fall allein. Selbst D’Addario hält sich raus: Er lässt sich von Nolan
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