Homicide
regelmäßig über den Fortgang berichten und bietet Beistand an, falls er gebraucht wird, gibt aber Edgerton und seinem Sergeant ansonsten freie Hand.
Der Kontrast zu D’Addarios Vorgehen bei den Ermittlungen im Fall Latonya Wallace könnte kaum größer sein. Zwar würde Edgerton gern glauben, dass D’Addarios zurückhaltende Herangehensweise zumindest teilweise Ausdruck seines Vertrauens in ihn als Ermittler ist, wahrscheinlicher ist aber, sinniert der Detective, dass D’Addario von Red-Ball-Großeinsätzen einfach die Nase voll hat. Nachdem in Reservoir Hill soviel Arbeitszeit und Geld verpulvert wurde, ohne ein Ergebniszu bringen, schreckt der Lieutenant vermutlich davor zurück, es noch einmal auf diese Weise zu versuchen. Gut möglich auch, dass LTD, wie Lieutenant D’Addario oft genannt wird, ebenso wie alle anderen von der Schicht einfach zu müde für eine weitere Großaktion ist.
Aber Edgerton weiß, dass nichts im luftleeren Raum geschieht. Wenn man ihn den Fall allein bearbeiten lässt, mag es auch daran liegen, dass sich D’Addario eine solche Entscheidung leisten kann. Als Andrea Perry gefunden wurde, lag ihre Aufklärungsquote bei satten 74 Prozent, fünf mutmaßliche Mörder wurden noch mit Haftbefehl gesucht – im Vergleich zum Vorjahr und zum Landesdurchschnitt ziemlich gute Zahlen. Daher muss D’Addario weder auf die Medien noch auf die Vorgesetzten Rücksicht nehmen. Aus Gesprächen mit Pellegrini weiß Edgerton, dass der Lieutenant die ausufernden Ermittlungen im Fall Latonya Wallace gelegentlich kritisiert hat. In verschiedenen Stadien dieser Ermittlungen haben sowohl Landsman als auch Pellegrini wiederholt angemerkt, dass weniger manchmal mehr sein kann, und der Lieutenant schien ihnen beizupflichten. Wenn die Aufklärungsquote höher gewesen wäre, wenn die Polizei von Baltimore nicht wegen der Frauenmorde im Northwestern so unter dem Druck der Öffentlichkeit gestanden hätte, wäre der Fall wohl anders behandelt worden. Jetzt, da die Tafel mehr Schwarz als Rot zeigt, war für das Morddezernat politisch alles wieder in Butter. Mit harter Arbeit, einigen geschickten Manövern und einer gehörigen Portion Glück hatte D’Addario seine Position und seinen Ruf erfolgreich verteidigen können. Die gestiegene Aufklärungsquote und D’Addarios eigentliche Einstellung zu den Red Balls reichten zwar nicht aus, um Edgertons Unabhängigkeit zu erklären, doch vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass der Mord an Nolans Team gefallen war.
Denn zum einen hat Nolan uneingeschränktes Vertrauen in Edgertons Arbeit, zum anderen kommt es auch nur höchst selten vor, dass er als Sergeant den Rest der Schicht und insbesondere D’Addario um Hilfe bittet. Von den drei Sergeants hielten nur noch McLarney und Landsman LTD wirklich die Stange. Nolan hielt sich aus D’Addarios Dauerkonflikt mit dem Captain heraus. Noch neulich hatte der Lieutenant voller Genuss darauf angespielt.
Das war zwei Abende zuvor gewesen, als alle drei Sergeants im Kaffeeraumversammelt waren und sich D’Addario nach der Nachmittagsschicht zum Gehen anschickte.
»Sehet, die zwölfte Stunde naht«, erklärte er theatralisch. »Und ich sage euch, noch bevor der Hahn dreimal krähet, wird einer von euch mich verleugnet haben …«
Die Sergeants lachten verlegen.
»… aber das ist schon in Ordnung, Roger, ich habe vollstes Verständnis. Tu, was du nicht lassen kannst.«
Als Mitglied von Nolans Team konnte sich Edgerton also nicht sicher sein, weshalb man ihn mit dem Fall Andrea Perry freie Hand ließ. Vielleicht hatte Dee wirklich so großes Vertrauen in ihn, vielleicht war es die neue Masche des Lieutenant, die Arbeit an Red Balls ganz dem leitenden Ermittler zu überlassen. Doch vielleicht lag es auch einfach daran, dass Roger Nolan den Lieutenant nicht gerne um etwas bat. Vielleicht, so dachte Edgerton, war es ein wenig von allem. Für einen Eigenbrötler wie ihn war es mitunter schwer, den politischen Hickhack im Dezernat zu durchschauen.
Doch warum D’Addario auch letztlich Abstand zu den Ermittlungen hält, für Edgerton macht es keinen Unterschied: Er läuft an der ganz langen Leine. Aus diesem Grunde entwickelt sich der Fall Andrea Perry ganz anders als der von Latonya Wallace. Edgerton wird es damit nicht so ergehen wie Pellegrini. Kein Gedanke an eine Sonderkommission, an Gutachten von FBI-Profilern, an Luftaufnahmen des Tatorts, an hundert endlose Debatten der versammelten Detectives. In diesem Kindermord
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