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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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Larry Doan, klein und untersetzt, gehört zum Urgestein des Gerichts von Baltimore. Er hat dunkles Haar, eine blasse Haut, ein Drahtgestell auf der Nase und schielt, was seinem Gesicht die Symmetrie nimmt. Im Gerichtssaal vermittelt Doan in seiner Haltung und seinem Auftreten oft den Eindruck eines Menschen, der einen verinnerlichten Kummer mit sich herumschleppt. Manchmal wirkt er wie das Klischee des unterbezahlten, überarbeiteten Staatsanwalts einer großen Stadt, die Aktentasche prall gefüllt mit Anträgen, Antworten auf Anträgen und Parteienvereinbarungen, dessen Wertvorstellungen unter dem Ansturm der steigenden Flut des menschlichen Elends schon einiges gelitten haben. Sollte die Staatsanwaltschaft von Baltimore jemals eine Symbolfigur für ein Plakat suchen, Doan wäre der geeignete Kandidat.
    Bei seinen Kollegen ist Doan hoch angesehen. Er gilt als fair, vernünftig und sorgfältig im Umgang mit Beweismaterial und Zeugen. Er bereitet sich stets gut auf seine Prozesse vor, und seine Schlussplädoyers sind immer kompetent, häufig gewandt, wenn man sie sich manchmal auch etwas zupackender und mitreißender wünschen würde. In einer Hinsicht jedoch ist er ein echter Gewinn für jeden Mordermittler,dem an seinem Fall liegt: Doan ist ein Kämpfer. Ist er von der Schuld eines Angeklagten überzeugt und ein vernünftiger Deal nicht möglich, dann scheut sich Doan nicht, auch einen Grenzfall oder einen schwierigen Fall vor ein Geschworenengericht zu bringen. Natürlich verliert er ebenso ungern wie seine Kollegen, aber er geht das Risiko ein, wenn die Alternative nur in der Aussetzung oder Einstellung eines Verfahrens bestehen würde.
    Darauf zählt nun auch Garvey: Er weiß, dass sich Doan ins Zeug legen wird, so wie er weiß, dass die Beweislage gegen Robert Frazier zwar nicht erdrückend, aber doch ausreichend ist. Bei allem Geplänkel ist er froh, es in diesem Fall mit Doan zu tun zu haben.
    Nach seinem Besuch beim Staatsanwalt begibt sich der Detective über die Seitentreppe in den zweiten Stock zu dem Saal, in dem Richter Cliff Gordy die Verhandlung führen wird. Im Korridor stehen zwei Bänke, eine dritte befindet sich in dem mit Teppichboden ausgelegten Vorraum des Gerichtssaals. Da er als Zeuge nicht im Zuschauerraum sitzen darf, wird Garvey in den nächsten drei Wochen diese drei Bänken zu seinem Büro umfunktionieren, während der Prozess, auf den er so lange hingearbeitet hat, ohne ihn seinen Lauf nimmt.
    Garvey fällt es stets schwer, auf die Rolle eines Handlangers des Staatsanwalts reduziert zu werden. Dabei gehört Doan nicht einmal zu jenen Anklagevertretern, die nach Möglichkeit von den Cops nichts sehen und hören wollen, im Gegenteil, er lässt sich sogar Ratschläge gefallen. Allerdings hört auch er sie sich bloß an, denkt sich sein Teil und tut dann, was er für richtig hält. Garvey, der den Fall Lena Lucas so gut kennt wie niemand sonst, ist nicht unbedingt für sein diplomatisches Feingefühl bekannt. Eigentlich geht ihm selten etwas durch den Kopf, das er nicht auch offen äußert. Doch es ist Doan, der durch die Flügeltür von Richter Gordys Saal schreiten und den Fall auf eigene Faust vertreten muss, während Garvey nichts anderes übrig bleibt, als draußen auf der Bank zu sitzen und brav Beweise und Zeugen heranzuschleppen. Die kleine Rangelei am Morgen in Doans Office markiert ihren Rollentausch: Im Februar war es Garvey gewesen, der über dem Fall schwitzte und jeden noch so kleinen Beweiskrümel zusammenkratzte. Jetzt hat Garvey Zeit, Witzchen zu reißen und andere aufzuziehen. Nun kann er so tun, als hätte er keine Ahnung, ob Wilson von der Spurensicherungauch wirklich auftauchen wird. Nun kann er die Prozessstrategie kritisieren und einen Sieg verlangen. Nun hat Larry Doan die Last des Falls geschultert.
    Doch Garvey möchte diesen Fall unbedingt gewinnen, und sei es nur, weil er noch nie einen vor einem Geschworenengericht verhandelten Fall verloren hat, ein Rekord, den er sich gerne erhalten möchte. Außerdem will er den Mord an Lena Lucas gesühnt sehen. Sicher, sie hat Kokain geschnupft und Frazier beim Dealen geholfen, aber sie war ihren Töchtern eine gute Mutter und hat niemandem außer sich selbst geschadet. Die beiden Töchter und Lenas Schwester sind als Zeuginnen der Anklage geladen und warten zusammen mit Garvey. Der Rest der Familie ist bereits im Gerichtssaal. Als sie Garvey begegneten, begrüßten sie ihn wie Moses nach dem Abstieg vom Berg Ararat. Gute

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