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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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trotzdem bloß ein Würstchen. In sechs Monaten sitzt du sowieso wegen einer anderen Sache wieder in Untersuchungshaft, gibt der Detective dem Angeklagten zu verstehen. Und wenn nicht, dann nur, weil jemand aus meiner Schicht eines Nachts auf dem Asphalt einen Kreidestrich um deinen Arsch zieht.
    Seltsamerweise nehmen die Angeklagten das selten persönlich. Sie kommen aus der überheizten Arrestzelle im Keller in den Verhandlungssaal, mit Fußfesseln und in Handschellen, schauen sich um und begegnen dem Blick des Detective. Meistens nicken sie ihm zu oder bringen durch eine andere kleine Geste eine Art Verbundenheit in der Gegnerschaft zum Ausdruck. Im Verlauf eines längeren Prozesses reichen manche dem Detective sogar die Hand und stottern ein paar sinnlose Dankesworte hervor, als ob ihnen der Detective durch sein Erscheinen irgendeinen Gefallen tun würde.
    Doch in seltenen Fällen, wenn ein Angeklagter Unsinn erzählt – wenn er im Gerichtssaal eine Schau abzieht oder provoziert, leere Drohungen gegenüber dem Richter und dem Staatsanwalt ausstößt –, kann es sein, dass ein Detective auch einmal die üblichen psychologischen Grenzen überschreitet. Nur in einem solchen Augenblick nimmt er den Angeklagten auch wirkliche wahr; nur in einem solchen Augenblick lässt sich der Detective anmerken, dass ihm am Ausgang des Falls gelegen ist.
    Es ist noch nicht lange her, da saß Dave Brown im Gerichtssaal und wartete auf das Votum der Geschworenen über zwei Angeklagte, die er vor Gericht gebracht hatte – zwei Jungs aus dem Westen von Baltimore, zweiundzwanzig und vierzehn, die im Frühling des Vorjahres bei einem Raubüberfall in der Nähe des University Hospital einen älteren Priester ermordet hatten. Brown sagte keinen Ton, als die Sprecherin der Geschworenen die beiden des vorsätzlichen Mordes schuldig sprach, doch der ältere der beiden Angeklagten verlor die Fassung.
    »Bist du nun zufrieden, du Arsch?«, rief er und warf dem Detective einen flammenden Blick zu.
    Der Zuschauerraum erstarrte.
    »Ja«, antwortete Brown seelenruhig. »Ich bin zufrieden.«
    Mehr Emotion gesteht sich ein Detective im Verhandlungssaal nicht zu.
    Mittwoch, 19. Oktober
    Im dritten Stock des Gerichtsgebäudes im Westen von Baltimore arrangiert Lawrence C. Doan noch einmal seinen Aktenstapel auf dem vollgepackten Schreibtisch, streicht sich mit dem Finger die schwarzen Haare aus der Stirn und glättet seine Frisur mit der flachen Hand. Keine Wirbel heute. Keine unbezähmbaren Verwerfungen im Windsorknoten seiner Krawatte. Keine Fusseln auf dem Kragen. Auch sonst keine Probleme, außer dass er heute dafür sorgen soll, dass ein Mörder in Baltimore seine gerechte Strafe erhält, was in etwa so schwierig ist, wie ein Winnebago-Wohnmobil durch ein Nadelöhr zu steuern.
    Und gerade als sich Doan nichts weiter wünscht, als noch ein paar Minuten in Ruhe seine Notizen durchzugehen und sein Eröffnungsplädoyer vorzubereiten, stürmt ein Detective des Morddezernats herein und geht ihm mit den unmöglichsten Sachen auf den Senkel – eine sadistische Aktion, befeuert von demselben Impuls, der Kinder dazu bringt, Fliegen die Flügel auszureißen.
    »Sind wir bereit?«, fragt Garvey.
    »Sind wir bereit!«, erwidert Doan. »Das fragen Sie mich zehn Minuten vor der Verhandlung?«
    »Diesen Fall dürfen Sie mir nicht versauen, Larry.«
    »Wie könnte ich?«, fragt Doan. »Der ist doch schon völlig verhunzt bei mir gelandet.«
    Garvey überhört es. »Die Fotos kommen bei meinem Auftritt, oder?« fragt er. Es geht um die Reihenfolge, in der die Beweise präsentiert werden.
    »Nein«, sagt Doan, bemüht, sich zu konzentrieren. »Die Fotos zeige ich, wenn Wilson dran ist. Wo bleibt eigentlich Wilson? Haben Sie bei der Spurensicherung angerufen?«
    »Und die Kugeln?«, fragt Garvey, ohne auf ihn einzugehen. »Brauchen Sie die Kugeln heute?«
    »Welche Kugeln? Wo ist Wilson? Hat er …«
    »Die Kugeln aus dem Kofferraum des Wagens.«
    »Äh, nein. Nicht heute. Die können Sie wieder in die Asservatenkammer bringen«, antwortet Doan zerstreut. »Weiß Wilson, dass er heute Nachmittag dran ist?«
    »Glaub schon.«
    »Das glauben Sie?«, empört sich Doan. »Sie glauben es? Was ist mit Kopera?«
    »Was soll mit dem schon sein?«
    Doan läuft rot an.
    »Bis zu Kopera kommen Sie doch heute Nachmittag ohnehin nicht, oder?«, fragt Garvey.
    Doan vergräbt sein Gesicht in den Händen und beginnt, über das Elend der Welt zu brüten. Das Staatsdefizit ist

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