Homicide
Ort, an dem bekanntermaßen mit Drogen gehandelt wird, verdächtig verhielt und dass der Officer bei näherem Hinschauen ein Tütchen aus der Sweatshirttasche des Verdächtigen hervorlugen sah, womöglich noch eine Ausbeulung in Höhe seines Hosenbunds bemerkte, die auf eine Waffe schließen ließ.
Ja. Ganz genau.
Bei der Straßenobservation wird der hinreichende Tatverdacht in der Regel sehr großzügig ausgelegt. In einigen Gegenden von Baltimore reicht es bereits aus, anders als jeder rechtschaffene Bürger länger als zwei Sekunden einem vorbeirollenden Streifenwagens nachzuschauen. Auch wenn es vor Gericht niemand zugibt, in der Realität sieht es so aus, dass man einen Typen beobachtet, bis man überzeugt ist, dass er Dreck am Stecken hat, ihn sich schnappt, Drogen und eine Waffe findet und sich hinterher überlegt, wie man den hinreichenden Tatverdacht begründet.
Ein Morddezernat, das in der Regel mit zuvor für eine ganz bestimmte Adresse ausgestellten Durchsuchungs- und Haftbefehlen operiert, kann die Sache mit dem hinreichenden Tatverdacht allerdings nicht auf die leichte Schulter nehmen. Schließlich braucht man die Unterschrift eines Richters, bevor man irgendwo anklopft. Einem Detective mit etwas Formulierungstalent sollte es aber gelingen, den zuständigen Richter auch bei einem eher schwachen oder etwas aufgebauschten Tatverdacht zu überzeugen. Trotzdem muss er irgendwas vorweisen, das sich im Beschluss anführen lässt.
Es gibt allerdings eine Gelegenheit, bei der ein Detective des Morddezernats vielleicht etwas laxer mit der Wahrheit umgeht, nämlich wenn ihn der Verteidiger fragt, ob sein Mandant seine Aussage unter Zwang gemacht oder ob er zuvor einen Anwalt verlangt hat. In seinemtiefsten Innern weiß ein guter Detective natürlich, dass jede Aussage zu einem gewissen Grad durch Zwang, wenn nicht gar durch handfesten Betrug zustande kommt. Aber streng nach den Buchstaben des Gesetzes kann er die Frage verneinen, ohne sich des Meineids schuldig zu machen. Schließlich wurden dem Angeklagten seine Rechte vorgelesen, er hat das Formular 69 unterzeichnet. Er hatte seine Chance.
»Aber wollte er nun mit einem Anwalt sprechen?«
Tja, könnte der Detective sagen, das hängt ganz davon ab, was man unter »wollen« versteht. Etwa die Hälfte aller Tatverdächtigen, die man in den Verhörraum führt, sagen, dass sie einen Anwalt brauchen oder einen Anwalt möchten, oder meinen, dass sie vielleicht einen Anwalt hinzuziehen sollten. Wenn sie wirklich darauf beharren, wenn sie wirklich einen Anwalt sehen und die Aussage verweigern wollen, nun, dann ist das Verhör eben zu Ende. Aber jeder Detective, der etwas taugt, versucht – zumindest für eine gewisse Zeit –, den Tatverdächtigen von diesem Wunsch abzubringen, und in solchen Momenten kann er froh sein, dass kein Richter des Obersten Gerichtshof vor der Tür des Verhörraums steht.
»Also, hat mein Mandant um einen Anwalt gebeten?«
»Nein, hat er nicht.«
Die wichtigste Regel für einen Detective des Morddezernats im Zeugenstand aber lautet, dass er nichts persönlich nimmt – weder im Verhältnis zum Angeklagten noch in dem zu den Anwälten. Im Zeugenstand zählt das richtige Auftreten. Ein Polizist, der dem Angeklagten oder seinem Verteidiger herablassend oder aggressiv gegenübertritt, bestätigt bei den Geschworenen das Bild eines heimtückischen Systems, das keine Strafverfolgung, sondern einen Kreuzzug betreibt. Wenn er also vom Verteidiger als Lügner bezichtigt wird, dann widerspricht er ihm ungerührt. Wenn seine Ermittlungsarbeit als stümperhaft bezeichnet wird, dann stellt er schlicht das Gegenteil fest. Und wenn der Angeklagte ihn von seinem Platz aus unverschämt anstarrt, dann ignoriert der Detective das einfach.
Für einen erfahrenen Detective ist das alles kein Problem. Und wenn es sich um einen gewöhnlichen Mordfall handelt, ist seine Unaufgeregtheit wahrscheinlich sogar echt. Doch selbst bei einem wichtigen Prozess lässt ein gewiefter Detective den Angeklagten nicht merken,dass ihm etwas an dem Fall liegt oder dass das Ergebnis in irgendeiner Welt von Bedeutung wäre. Der Angeklagte bekommt nicht einmal den Zorn oder die Verachtung des Detective zu spüren. Die Botschaft lautet klar und unmissverständlich: Ob du deinen Fall gewinnst oder verlierst, du bist trotzdem nur ein Stück Dreck am Weg. Wenn die Geschworenen mit einem Schuldspruch zurückkommen, sind wir dich für ein paar Jahre los; falls nicht, bist du
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