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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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außer Kontrolle, das Ozonloch wird immer größer, zwanzig Schurkenstaaten basteln an Atomwaffen und ich, Lawrence Doan, bin hier in diesem Loch von einem Büro mit Rich Garvey gefangen und soll in zehn Minuten ein Plädoyer halten.
    »Nein, Kopera werde ich nicht brauchen«, antwortet Doan und reißt sich zusammen. »Aber Wilson wahrscheinlich schon.«
    »Soll ich ihn anrufen?«, neckt ihn Garvey.
    »Ja«, antwortet Doan. »Ja. Bitte! Rufen Sie ihn an!«
    »Wenn es Sie beruhigt, Larry …«
    Doan wirft Garvey einen wütenden Blick zu.
    »Sehen Sie mich nicht so an, Sie Schuft«, sagt der Detective, schlägt sein Sakko auf und greift nach seiner Waffe im Holster. »Sonst brenne ich Ihnen ein paar Löcher in den Pelz. Ich wette, jeder hier im Gerichtsgebäude wird mir liebend gern bestätigen, dass es gerechtfertigter Schusswaffengebrauch war.«
    Der Staatsanwalt antwortet ihm mit dem Mittelfinger, und der Detective, der die Waffe ins Holster zurückschiebt, lacht.
    »F. Lee Doan«, grinst Garvey. »Diesen Fall dürfen Sie nicht verlieren, Arschloch.«
    »Wenn Sie Ihren Scheißjob erledigt und mir ein paar Zeugen gebracht hätten …«
    Die Standardklage der Staatsanwaltschaft, die sich Tausende von Officers in Tausenden Gerichtsgebäuden jeden Tag anhören müssen.
    »Sie haben doch Zeugen«, entgegnet Garvey. »Romaine Jackson, Sharon Henson, Vincent Booker …«
    Bei der Erwähnung von Booker verzieht Doan das Gesicht.
    »Was wollen Sie?«, meint Garvey schulterzuckend. »Er ist eindeutig ein Zeuge …«
    »Damit sind wir doch durch, verdammt«, antwortet Doan gereizt. »Ich will Vincent Booker nicht im Zeugenstand sehen. Auf gar keinen Fall.«
    »Na schön«, antwortet Garvey und zuckt noch einmal mit den Schultern. »Aber meiner Meinung nach ist das ein Fehler.«
    »Ja«, antwortet Doan. »Das haben Sie mir schon oft genug gesagt. Und Sie werden der Erste sein, der es mir unter die Nase reibt, falls wir den Fall verlieren.«
    »Worauf Sie Gift nehmen können«, sagt Garvey.
    Der Staatsanwalt reibt sich die Schläfen und blickt auf den Papierstapel auf seinem Schreibtisch: Der Bundesstaat Maryland gegen Robert Frazier in Sachen Mord an Charlene Lucas. Er hat ein wenig übertrieben, damit Garvey nicht zu übermütig wird: Die Anklage gegen Frazier ist solide gezimmert, Zeugen gibt es auch. Trotzdem handelt es sich um einen Indizienprozess, und mit Indizien, das wird jeder Staatsanwalt bestätigen, ist das immer so eine Sache. Ohne Augenzeugen oder Mordwaffe, ohne Geständnis und ein erkennbares Motiv haben sie nur ein dünnes Gespinst, das Frazier mit dem Tod seiner Geliebten verknüpft. Für Garvey, der das Material zusammengetragen hat, gehört Vincent Booker dazu, und aus taktischen Erwägungen auf seine Zeugenaussage zu verzichten, schwächt in seinen Augen den Fall. Aber für Doan ist Vincent Booker ein wandelndes Pulverfass, ein Zeuge, in dem die Geschworenen auch leicht einen neuen Tatverdächtigen ausmachen könnten.
    Schließlich hat Vincent für Frazier Kokain verkauft. Er kannte Lena Lucas und hat bereits zugegeben, dass er von den Ereignissen, die der Ermordung seines Vaters vorangingen, Kenntnis hatte. Garvey ging sogar davon aus, dass Vincent dabei war, als Frazier vom alten Booker die Herausgabe der Drogen verlangte, die der aus dem Zimmer seinesSohns gestohlen hatte. Vincent sah wahrscheinlich tatenlos zu, wie Frazier seinem Vater das Gesicht aufschlitzte, als der nicht gleich das Versteck des Päckchens preisgab. Möglicherweise war er auch zugegen, als Frazier schließlich zur Pistole griff. Bei dieser Sachlage konnte niemand vorhersagen, wohin eine Zeugenaussage von Vincent führen würde.
    Nein, denkt Doan noch einmal, das Risiko ist größer als der mögliche Nutzen. Allerdings hat es keinen Sinn, das mit Garvey zu diskutieren. Der Detective ist überzeugt, dass Fraziers Anwalt, Paul Polansky, ohnehin versuchen wird, Vincent Booker zum möglichen Täter aufzubauen. Daher spielt es nach Garveys Ansicht nur der Gegenseite in die Hände, wenn sie Booker ganz aus der Sache heraushalten.
    Die kleine Auseinandersetzung und die übliche Sorge um die rechtzeitige Präsenz von Beweismaterial und Zeugen haben Doan die paar Minuten ruhiger Sammlung geraubt, die er sich vor der Eröffnung der Verhandlung an diesem Morgen gewünscht hatte. Stattdessen hatte der Tag mit einer Kabbelei begonnen.
    Doan scheucht die Nervensäge lächelnd aus dem Büro, um wenigstens noch ein paar Augenblicke Ruhe zu haben.

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