Homicide
Leute, denkt Garvey und lässt sich auf der Bank nieder. Sie haben es verdient, dass der Fall gewonnen wird.
Die Hauptperson des Tages, Robert Frazier, befindet sich ebenfalls bereits im Verhandlungssaal. Er hat auf der Anklagebank neben seinem Anwalt Platz genommen. Vor ihm liegt eine gebundene Ausgabe des neuen Testaments mit einem Lesezeichen im Lukasevangelium. Frazier trägt einen teuren dunklen Anzug und ein blütenweißes Hemd, trotzdem kann er seine Zunft nicht verleugnen. Kurz bevor die Geschworenen hereinkommen, stößt er seinen Stuhl zurück und gähnt wie jemand, der in einem Gerichtssaal praktisch zu Hause ist. Er wendet sich um und sieht nach der Familie Lucas in einer der hinteren Reihen, starrt einen Augenblick in ihre Richtung und wendet sich wieder ab.
Am Morgen des Vortags hatten Staatsanwaltschaft und Verteidigung Verfahrensanträge gestellt. Doan hatte einige Routinemanöver von Paul Polansky abgewehrt, etwa als er versuchte, die Identifizierung seines Mandanten durch Romaine Jackson – die junge Frau, die aus einem Fenster im zweiten Stock beobachtet hatte, wie Frazier das Haus von Lena betrat – zu verhindern. Polansky hatte vorgebracht, Fraziers Foto habe unter den ihr vorgelegten herausgestochen, weil es ganz oben links gelegen habe und die anderen abgebildeten Männer jünger und fülliger gewesen seien. Gordon schmetterte diesen Antrag von Polansky ebenso ab wie den, der einen von Garvey und Donald Kincaid nach der Verhaftung für Fraziers Chrysler beantragten Durchsuchungsbefehlinfrage stellte. Bei dieser Aktion war im Kofferraum Munition vom Kaliber .38 gefunden worden.
Der Rest des Vortags ging für die Wahl der Geschworenen drauf, für das sogenannte
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die langwierige Überprüfung der Kandidaten auf Befangenheit. Das
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ist ein fester Bestandteil des Prozessrituals. Traditionell nutzt die Staatsanwaltschaft ihre begrenzte Anzahl von Einwänden gegen mögliche Geschworene dafür, alle Personen auszuschließen, die einmal Opfer von Polizeigewalt waren, Verwandte im Gefängnis haben oder ganz allgemein das Justizwesen der Vereinigten Staaten als eine verkommene Institution betrachten, die von hündischen Kapitalistenknechten beherrscht wird. Der Verteidiger wiederum versucht, Leute von der Geschworenenbank fernzuhalten, die mit einem Gesetzeshüter verwandt sind, die selbst einmal Opfer eines Verbrechens waren oder die schlicht überzeugt sind, dass jemand nicht unschuldig auf eine Anklagebank geraten kann. Weil sich in Baltimore kaum jemand findet, auf den nicht das eine oder andere zutrifft, dauerte das
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auch im Fall Lucas seine Zeit – jedenfalls so lange, bis die Anwälte beider Seiten ihr Kontingent an Einsprüchen aufgebraucht hatten.
Doan beobachtet nun von seinem Platz aus, wie das Ergebnis der gestrigen Bemühungen aus dem Beratungszimmer der Geschworenen einmarschiert. Eine typische Jury für Baltimore: überwiegend schwarz, überwiegend weiblich. Polansky bemühte sich nicht unbedingt um weiße Geschworene für seinen schwarzen Mandanten, wohingegen Larry Doan nicht gerade versuchte, weiße Bewerber von der Geschworenenbank fernzuhalten. Zufrieden überblickt Doan die Reihe der Geschworenen. Die meisten haben einen Job, und mit Ausnahme einer jungen Frau in der ersten Reihe scheinen alle auf Draht und aufmerksam bei der Sache zu sein, was bei einem Fall wie diesem wichtig ist. Die junge Frau in der ersten Reihe allerdings könnte Schwierigkeiten machen. Doan beobachtet, wie sie sich auf ihren Stuhl plumpsen lässt, die Arme über der Brust verschränkt, und zu Boden starrt. Sie wirkt schon jetzt gelangweilt; Gott allein weiß, wie sie sich erst nach vier Tagen Zeugenbefragung verhalten wird.
Richter Clifton Gordy eröffnet die Verhandlung und beginnt damit, die Geschworenen in das juristische Neuland einzuführen. Groß, ruhigund ernst, ist Gordy eine imponierende Erscheinung. Seine Sprache ist präzise, sein Humor messerscharf und sein Verhandlungsstil – zumindest erscheint es so den Anwälten von Staatsanwaltschaft und Verteidigung – oft tyrannisch. Falls sie es versäumen, sich zu erheben, wenn sie einen Einspruch machen, werden sie in der Regel von ihm einfach übergangen. Gordy kennt sein Gesetz, und er kennt seine Anwälte. So hatte Doan etwa unter Gordy gearbeitet, als der selbst noch Vorsitzender der Staatsanwaltschaft war. Noch etwas anderes an dem Richter kommt Doan in diesem Fall sehr zupass: Cliff Gordy ist schwarz, was der
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