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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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trotzdem noch ein schwacher Fall, der sich nur auf einen einzigen Augenzeugen stützt. Worden zieht seine Glanznummer ab, er spielt die blauäugige, weißhaarige Vaterfigur und überzeugt den Schützen, die Wahrheit zu sagen. Worden macht das so eindrucksvoll, dass ihn der Verdächtige zwei Wochen später aus demStadtgefängnis anruft, um ihm von Gerüchten über einen Fall zu berichten, mit dem er nichts zu tun hat.
    »Detective Worden, ich wollte mich melden und Ihnen frohe Weihnachten wünschen«, erklärt er dem Mann, der ihn hinter Gitter gebracht hat. »Ihnen und Ihrer Familie.«
    »Vielen Dank, Timmy«, erwidert Worden leicht gerührt. »Dir und den Deinen auch schöne Feiertage.«
    Zweimal Rot, dann zweimal Schwarz. Für Worden gleiten die letzten Wochen in diesem mit Ärger und Frustration begonnenen Jahr nun so unbeschwert dahin, als folgten sie dem Drehbuch einer Krimiserie im Fernsehen, in der die Verbrechen vor der letzten Werbepause aufgeklärt sein müssen.
    Drei Tage vor Weihnachten werden der Big Man und Rick James zu einer Schießerei in East Baltimore gerufen. Als sie den Wagen auf die Straße lenken, finden sie sich unversehens in einer für die Jahreszeit untypisch feuchten Dezembernacht wieder. Die ganze Stadt liegt in dichtem, undurchdringlichem Nebel. Die beiden Detectives versuchen angestrengt, die Häuser zumindest zu erahnen, als sie die Fayette Street hochschleichen.
    »Das ist ja eine richtige Waschküche«, sagt James.
    »Ich wollte schon immer mal bei Nebel einen Mord bearbeiten«, erwidert Worden fast sehnsüchtig. »Wie Sherlock Holmes.«
    »Ja«, stimmt James ihm zu. »Der Kerl, der immer im Nebel über Leichen gestolpert ist.«
    »Weil er in London war«, gibt Worden zu bedenken, während er den Wagen in Höhe des Broadway vorsichtig über die Kreuzung lenkt.
    »Und schuldig war immer so ein Mistkerl namens Murray. Murray, wie heißt er weiter …?«
    »Murray?«, fragt Worden verwirrt.
    »Ja, der Mörder hieß immer Murray.«
    »Moriarty, meinst du. Professor Moriarty.«
    »Genau«, sagt James, »den meine ich. Wenn wir heute einen Mord kriegen, sollten wir losziehen und einen Kerl namens Moriarty suchen.«
    Sie kriegen ihren Mord, eine Straßenschießerei. Es bleibt nur so lange ein Whodunit, bis sich Worden unter die Schaulustigen gemischt und abgewartet hat, dass sich die erste natürliche Abneigung der Mengelegt. Ein bleichgesichtiger Wanderer in einem Meer schwarzer Gesichter, ein geduldiger Polizist in Zivil, das Ohr gespitzt, bis eine anonyme Stimme den Namen des Täters ausstößt.
    Später, kurz vor Tagesanbruch, als der Papierkram erledigt ist und der Fernseher nur noch das Testbild zeigt, schreitet Donald Worden seltsam aufgedreht durch die Stille und sucht nach einer Beschäftigung, um sich die Zeit zu vertreiben. James schläft im Kaffeeraum, Waltemeyer tippt im Verwaltungsraum an seinem Tagesbericht.
    Der Big Man fummelt den Plastikdeckel von einer versiegelten Dose Kaffeepulver, um eine frische Kanne zu brühen. Plötzlich zieht ein Ausdruck reiner Erkenntnis über sein Gesicht, und er sendet die Scheibe auf eine Segeltour durch die abgestandene Luft des Hauptbüros.
    »Seht mal«, ruft er, als er seinem neuen Spielzeug nachläuft. Wieder schleudert er die Scheibe durch den Raum, diesmal mit einem perfekten Abpraller vom Fliesenboden.
    »Und mein nächstes Kunststück«, sagt er, bereit zu einem neuen Wurf, »ist ein Abpraller von der Decke.«
    Worden wirft die Plastikscheibe in die Höhe. Waltemeyer im Verwaltungsraum blickt von der Schreibmaschine auf, einen Augenblick irritiert von etwas Undeutlichem, das in seinem Augenwinkel durch die Luft saust. Er mustert Worden von oben bis unten und starrt wieder auf seinen Bericht, als sei er zu dem Ergebnis gelangt, dass es eine optische Täuschung war.
    »Komm schon, Donald«, ruft Worden, »heb deinen Hintern …« Waltemeyer sieht auf.
    »Komm, Donald, machen wir ein Spiel!«
    Waltemeyer tippt weiter.
    »Hallo, Frau Waltemeyer! Darf Donald heute rauskommen und mit mir spielen?«
    Worden schickte die Scheibe auf einen Flug in Richtung der gläsernen Trennwand zwischen den beiden Büros. Gerade da erscheint der Verwaltungsleiter, eine Stunde vor seinem regulären Dienstbeginn. Er durchquert das Aquarium und steuert sein Büro an. Das Plastik prallt an der Außenwand ab und gleitet elegant an einer Wandsäule vorbei durch die offene Tür in Nolans Büro. Verdutzt bleibt der Verwaltungsleiteran der Schwelle stehen und

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