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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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will ich Ihnen sagen, warum ich hier bin«, erklärt Foster dem Fish Man. »Ich bin hier, weil ich Leute wie Sie kenne. Ich weiß, was Leute wie Sie …«
    Neugierig geworden blickt der Fish Man auf.
    »Ich habe schon Tausende gesehen, die wie Sie sind.«
    Pellegrini versucht zu erkennen, was der Verdächtige mit seiner Körpersprache verrät. Dass er den Blick auf die Tischplatte oder auf den Boden richtet, ist nach den kinesiologischen Vernehmungsanalysen ein klarer Hinweis, dass er etwas verbergen will. Die gefalteten Arme, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnt, verweisen auf Verschlossenheit und die Weigerung, die Zügel aus der Hand zu geben. Für Pellegrini fließen all seine Lektüre, all seine Vorbereitungen der letzten drei Monate in diesem einen Augenblick zusammen – jetzt, in diesem Augenblick, würde die Wissenschaft auf die Probe gestellt.
    »… Sie aber sind noch nie einem Menschen begegnet, wie ich es bin«, hält Foster dem Fish Man vor. »Nein. Vielleicht gab es Leute, die mit Ihnen gesprochen haben. Aber keiner von denen ist so wie ich. Das werden Sie sehen, wenn ich mit Ihnen rede. Ich kenne Sie, Mister …«
    Damit setzt der Vernehmungsspezialist zu einem nicht enden wollenden Monolog an, einem ununterbrochenen Redeschwall, in dem er sich von einem Sterblichen aus Fleisch und Blut zu einer überwältigenden Gestalt uneingeschränkter Autorität erhebt. Es ist die Standardeinleitung zu jeder längeren Vernehmung, der Beginn einer Selbstbetrachtung, die einem Detective dazu dient, sich mit der Aura des Allwissenden zu umgeben. In Baltimore macht man den Verdächtigen an dieser Stelle in der Regel glauben, er habe einen Mann von der Qualität eines Eliot Ness vor sich, des Strafverfolgers, der Al Capone zur Strecke brachte. Jeder, der so dumm ist, in diesem Verschlag zu sitzen und dem von Gott berufenen Detective Mist zu erzählen, habe bereitseinen Platz in der Todeszelle gebucht. Foster hingegen scheint seinem Einführungsmonolog ein wenig mehr Dramatik zu verleihen.
    »… und ich weiß alles über Sie …«
    Gewiss, Foster ist gut, doch er ist nicht das einzige Geschütz, das sie aufgefahren haben. Als sich Pellegrini im Konferenzraum umblickt, stellt er zufrieden fest, dass er für seine letzte Vernehmung an alles gedacht hat. Wie schon bei der zweiten Vernehmung des Fish Man im Februar, die ebenfalls im Büro des Captain stattgefunden hatte, ist auch jetzt wieder der gesamte Verlauf durchinszeniert. Wie früher hat Pellegrini auch diesmal im direkten Blickfeld seines Verdächtigen Fotos des toten Mädchens aufgehängt. Diesmal aber hat er auch alles andere aus seiner Fallakte verwendet – nicht nur die Farbaufnahmen vom Tatort, sondern auch die größeren Schwarz-Weiß-Bilder der Kamera über dem Seziertisch in der Penn Street. Und damit zeigt er dem Mann, den er für ihren Mörder hält, die entscheidenden Verletzungen, die Latonya zugefügt wurden: die Ligatur quer über den Hals, die schmalen, tiefen Einstichwunden, der lange, schartige Schnitt der letzten Verstümmelung. Pellegrini hat sich für die Fotos mit der größtmöglichen Wirkung entschieden, obwohl er weiß, dass ein derart auf psychologische Wirkung abzielendes brutales Vorgehen ein mögliches Geständnis schwächen kann.
    Für einen Detective ist es ein Risiko, wenn er im Vernehmungsraum mehr als nötig von seinen Ermittlungen preisgibt, und im vorliegenden Fall ist es ein doppeltes Risiko. Zum einen kann ein Verteidiger später behaupten, der Fish Man habe gestanden, weil er durch die brutalen Aufnahmen einen Schock erlitten habe und eingeschüchtert worden sei. Außerdem könnte der Strafverteidiger auch einwenden, das Geständnis besitze so keinen eigenständigen Beweiswert. Nun aber sind die Einzelheiten, die die Detectives im Februar noch zurückgehalten hatten – die Strangulationsligatur, die Einrisse in der Vagina –, an der Wand des Konferenzraums aufgereiht. Wenn der Fish Man jetzt zusammenbricht und von seinem Mord an dem Mädchen berichtet, besteht die Möglichkeit, dass sein Geständnis angezweifelt wird – es sei denn, es enthält zusätzliche Einzelheiten, die es unabhängig von diesen bewusst eingesetzten Mitteln untermauern.
    Das alles weiß Pellegrini, trotzdem hat er die Fotos an die Pinnwandgehängt. Ein bestürzendes Hochglanzfoto neben dem anderen, jedes anklagend auf den Ladenbesitzer weisend, jedes einzelne ein erschreckender Appell an das Gewissen. Da es nach dieser Vernehmung keine weitere

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