Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
Vom Netzwerk:
den Mund hältst.
    »Darum habe ich zuerst auch das mit dem Zaun erzählt«, sagst du und schaust auf den Boden.
    »So, so,« sagt der jüngere Cop und schreibt weiter.
    Plötzlich schneit das Walross rein und zeigt dir ein Polizeifoto in Schwarz-Weiß. Auf dem Foto ist der Jamaikaner, genau der, den du vor nicht mal zehn Minuten reingehängt hast.
    »Ist das der Mann?«, fragt er.
    Scheiße. Gottverdammte Scheiße. Das darf doch nicht wahr sein.
    »Das ist er doch, oder?«
    »Nein.«
    »Sie sind ein verdammter Lügner«, sagt das Walross. »Das ist der Mann, den Sie genannt haben. Und er wohnt in dem von Ihnen beschrieben Eckhaus. Halten Sie mich eigentlich für total blöd«
    »Das ist er nicht. Es war ein anderer, der so ähnlich aussah …
    »Sie haben wohl gedacht, wir wüssten nicht, wen Sie meinen?«, sagt er. »Aber ich habe in dem Gebiet gearbeitet. Die Familie, von der Sie sprechen, kenne ich schon seit Jahren.«
    Da gibst du dem Mann einen Spitznamen, und zehn Minuten später kommt er mit dem verdammten Foto zurück. Ist nicht zu fassen. Aber du kennst ihn nicht, du weißt nicht, dass dieses Walross ein Gedächtnis hat, das er wie eine Waffe mit sich herumträgt. Sonst hättest du nämlich kein Wort gesagt.
    Ein paar Monate später, als eine stellvertretende Staatsanwältin deine Akte in die Hände kriegt, muss sie sich vom Leiter ihrer Prozessabteilung sagen lassen, dass dein Fall, rein auf Indizien gestützt, keine Aussicht auf Erfolg haben wird. Eigentlich würdest du Hoffnung schöpfen, wären da nicht Namen wie Worden und Landsman und Pellegrini, die in der Anklageschrift aufgeführt sind. Denn dieser Worden wird alle Hebel in Bewegung setzen und sich direkt an den Leiter der Prozessabteilung wenden, und Pellegrini wird der Staatsanwältin erklären, wie sie das Verfahren gewinnen kann. Am Ende wird Landsman in Bothes Gerichtssaal in den Zeugenstand treten und deinem Pflichtverteidiger bis auf das Spülbecken alles vorknallen und einen Haufen vondeiner Vergangenheit und von Spekulationen und von Gerüchten in seine Aussage packen, dass du dich irgendwann umdrehst und deinen Verteidiger entsetzt ansiehst. Letztlich wird es nicht darauf ankommen, dass die Labortechniker sämtliche Blutproben vor dem Verfahren haben vergammeln lassen, dass die Strafverfolger den Prozess eigentlich abweisen wollten, und auch nicht, dass du in deiner eigenen Aussage noch einmal die Story vom mordenden Jamaikaner erzählst. Das alles ist egal, denn sie haben dich schon gehabt, als du das Küchenmesser in die Hand nahmst. Und wenn du es bis dahin noch nicht wusstest, wird es dir klar, als dein Verteidiger seine Aktentasche zuklappt und dir erklärt, was Elsbeth Bothe da so verärgert ausspuckt, nämlich zweimal »lebenslänglich«, musst du schlucken.
    Aber jetzt, in diesem Augenblick, wehrst du dich noch und ziehst jeden Trick aus der Tasche, den du kennst, um hier im Verschlag die gequälte Unschuld zu spielen. Du hast sie nicht umgebracht, jammerst du, als der Fahrer von Gefangenentransport mit den Handschellen kommt, es war der Jamaikaner. Er hat die beiden umgelegt, und dich hat er geschnitten. Auf dem Weg zum Fahrstuhl, auf dem Korridor, schaust du in die Büros und suchst die Männer, die dir das angetan haben: der weißhaarige Cop und der jüngere mit den dunklen Haaren und der Sergeant, der dich im Krankenhaus überrumpelt hat – alle drei überzeugt und sich ihrer Sache ganz sicher. Du schüttelst den Kopf, du bettelst, spielst das Opfer. Aber was weißt du schon davon, ein Opfer zu sein?
    In vier Monaten wirst du für diese Männer keine Bedeutung mehr haben. In vier Monaten, wenn sie den Durchschlag der Gerichtsschreiben in ihren Postfächern finden, werden die Männer, die dir die Freiheit genommen haben, auf deinen in Computerlettern geschrieben Namen blicken und sich fragen, wer du bist: Wilson, David. Gerichtsverfahren in Abschnitt sechs. Himmel, werden sie denken, wer war noch mal dieser Wilson? Ach ja, der Doppelmord in Pimlico. Genau, dieser Trottel mit der Geschichte vom Jamaikaner.
    Im Lauf der Zeit wird dein Trauerspiel in einen Aktenschrank im Verwaltungsbüro verbannt werden und schließlich auf einem Streifen Mikrofilm in den Eingeweiden des Präsidiums landen. Irgendwann wirst du nur noch ein Name auf einer Karteikarte im Registraturkastendes Vorstrafenregisters sein, in der Schublade mit der Aufschrift T–Z, dicht gedrängt neben Tausenden anderen. Irgendwann bist du bedeutungslos.
    Aber heute,

Weitere Kostenlose Bücher