Homicide
als der Fahrer deine Handschellen checkt und seine Listen kontrolliert, bist du die kostbare Trophäe vom Feldzug dieses Tages, der Heilige Gral eines weiteren Kreuzzugs im Ghetto. Für die Detectives bist du, als sie dich gehen sehen, fleischgewordenes Zeugnis einer Hingabe, die anderen verborgen bleibt, Ausdruck eines ehrbaren Lebens im Dienst einer verlorenen Sache. An diesem zur Neige gehenden Dezembernachmittag bist du ihr ganzer Stolz.
Wenn es eine ruhige Schicht gewesen wäre, würden sie vielleicht nach Hause fahren, noch ein bisschen was essen und dann bis zum Morgen schlafen. Aber sie haben nicht früher Dienstschluss, denn du hast zwei Menschen umgebracht und sie angelogen und Donald Worden bewiesen, dass er für dieses Leben geschaffen ist, dass er nichts anderes sein kann als ein Detective im Morddezernat. Für Tom Pellegrini aber bist du der erste Schritt auf dem langen Weg zurück und die erste Chance auf Erlösung. Auf der Tafel steht dein Name in schwarzen Lettern unter dem von Jay Landsman, die letzten Einträge dieses Jahres bei einem erfahrenen Sergeant, der wieder einmal die beste Quote seiner Einheit erreicht hat.
Wenn sie ihre Formulare ausgefüllt haben, werden sie vielleicht ins Kavanaugh’s gehen oder in die Market Bar, oder wo auch immer sich die Cops ihre Morde wegspülen. Womöglich werden sie an diesem Silvesterabend ein- oder zweimal die Gläser zu einem Toast heben, auf sich selbst, auf das, was von ihrer wahren Bruderschaft noch übrig geblieben ist. Für dich aber wird niemand sein Glas heben. Du bist ein dreckiger Mörder, warum also sollten sie auf dich anstoßen? Trotzdem werden sie an dich denken. Sie werden sich erinnern, wie gut die Spuren am Tatort zu lesen waren, wie sie dich im Krankenhaus dazu brachten, deine Story aufzugeben, wie sie ein Foto von dem Jake aufgetrieben haben, dem du die Sache in die Schuhe schieben wolltest, und wie du auch das fressen musstest. Wenn sie an dich denken, wird ihnen wieder einmal klar werden, wie schön und wunderbar gute Polizeiarbeit sein kann – ein Gefühl, das nur ein Detective kennt. Sie werden noch etwas trinken, und wenn Landsman seine Geschichten von der aus Alugebastelten Radarpistole oder von Phyllis Pellegrini auf Ryker’s Island erzählt, lachen sie noch ein bisschen lauter.
Verdammt, vielleicht ziehen sie vom Kavanaugh’s sogar noch auf irgendeinen Parkplatz und lassen dort die Nacht ausklingen, tauschen ihre Kriegserlebnisse aus und warten, dass sie nüchtern werden, damit sie, ehe der Tag anbricht, nach Hause fahren können. Heim zu ihrer Frau, die schon aufgestanden ist und sich zurechtmacht, während die Kinder durchs Haus toben. Heim zu einem duftenden Frühstück in der Küche und zum Zimmer mit zugezogenen Jalousien und dem Bett, das schon jemand im Schlaf zerwühlt hat. Ein neuer Morgen, an dem sich die Welt ohne sie drehen wird, ein neuer Tag, ein neues Jahr. Diese Welt, geschaffen für die, die im Licht leben und Gemeinschaft miteinander haben.
Sie schlafen, bis es dunkel wird.
Epilog
Der zeitliche Rahmen dieser Schilderung – vom 1. Januar 1988 bis zum 31. Dezember 1988 – ist zwangsläufig willkürlich gesetzt. Er legt ein künstliches Raster von Tagen, Wochen und Monaten über das Leben dieser Männer, das in der Wirklichkeit einen viel weiteren Bogen spannt. Auf diesem Bogen waren die Detectives von Gary D’Addarios Schicht bereits lange unterwegs, als mein Bericht begann, und sie setzten ihre gemeinsame Reise nach seinem Abschluss weiter fort. Namen, Gesichter, Tatorte, Akten, Urteile – sie wechseln ständig. Den stets gleichbleibenden Hintergrund bilden die tagtägliche Gewalt in den amerikanischen Großstädten und der zeitlose Kampf, den die Detectives des Morddezernats gegen sie führen. Einige Männer werden versetzt, einige gehen in den Ruhestand, einige werden zu ausgedehnten Sonderermittlungen abkommandiert, doch im Großen und Ganzen bleibt das Morddezernat, wie es war.
Noch immer werden Menschen umgebracht. Das Telefon steht nie still. Jeder Tag bringt neue Fahrberichte, neuen Streit um die Überstunden. Der Verwaltungsleiter berechnet täglich die Aufklärungsquote. Die Tafel ist stets voll mit roten und schwarzen Namen. Doch auch wenn die Erinnerung der Detectives an einzelne Fälle verblasst und schließlich vergeht, haftet an der Arbeit selbst noch lange danach ein ganz besonderer Glanz an.
Jedes Jahr veranstaltet das Morddezernat von Baltimore ein Festessen mit Ehemaligen in den
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