Homicide

Vermisstenanzeige aufgegeben. Sie las sich wie Dutzende andere, die jeden Monat in Baltimore eingehen. Das Morddezernat war da noch nicht eingeschaltet worden, die Ermittlungen beschränkten sich auf die Routineüberprüfungen der Vermisstenstelle im Central District.
    Die beiden Detectives suchen als Erstes Latonyas Schule auf, um den Direktor und Lehrer zu befragen, außerdem eine neunjährige Freundin des Mädchens sowie deren Mutter, die beide Latonya am Nachmittag ihres Verschwindens gesehen haben. Die Befragungen bestätigten im Wesentlichen die Vermisstenanzeige:
    Am Nachmittag des 2. Februar, einem Dienstag, kehrte Latonya Wallace zur gewohnten Zeit von der Eutaw-Marshburn Elementary School nach Hause zurück. Sie kam dort ungefähr um drei Uhr an und verließ das Haus eine halbe Stunde später mit ihrer blauen Tasche. Ihrer Mutter sagte sie, sie wolle in die Zweigstelle der Stadtbücherei in der Park Avenue gehen, ungefähr vier Blocks von der Wohnung der Familie entfernt. Latonya klopfte im Nachbarhaus an und fragte, ob ihreFreundin mit ihr in die Bücherei gehen wolle. Da das kleinere Mädchen von seiner Mutter dazu keine Erlaubnis bekam, machte sich Latonya allein auf den Weg.
    Garvey und McAllister gehen zur nächsten Station, der Bücherei in der Park Avenue. Die Bibliothekarin, die an diesem Nachmittag Dienst hatte, kann sich noch an das Mädchen in dem roten Regenumhang erinnern. Das Kind sei nur ein paar Minuten da gewesen und habe sich anscheinend wahllos ein paar Bücher herausgegriffen, fast ohne auf die Titel oder das Thema zu achten. Wenn sie nun darüber nachdenke, erklärt die Bibliothekarin den beiden Detectives, sei ihr das Mädchen sehr ernst, sogar sorgenvoll erschienen; vor dem Weggehen sei es gedankenverloren einen Augenblick in der Tür der Bibliothek stehengeblieben.
    Dann ist Latonya Wallace mit ihrer Büchertasche im Getriebe Baltimores verschwunden. Für ihren weiteren Verbleib gibt es keine Zeugen. Anderthalb Tage ist das Kind verschwunden, bevor man seine Leiche auf dem Weg hinter den Häusern findet. Wo man sie festgehalten hat, wo sie mehr als sechsunddreißig Stunden gesteckt hat – der eigentliche Tatort also –, ist nicht bekannt. Außer der Leiche des Kindes haben die Detectives keinerlei Anhaltspunkte zur Verfolgung des Mörders.
    Und hier setzt nun Pellegrini an. Zusammen mit Jay Landsman wartet er im Autopsieraum im Keller der Rechtsmedizin in der Penn Street darauf, dass die Skalpelle aus den sterblichen Überresten von Latonya Wallace kalte, klinische Daten zutage fördern. Die Fakten sprechen anfangs für eine längere Entführung: Der Mageninhalt des Opfers besteht aus einer voll verdauten Mahlzeit, Spaghetti mit Fleischklößchen, gefolgt von nur teilweise verdauten Hotdogs und einer faserigen Substanz, vermutlich Sauerkraut. Ein Detective ruft in der Schulkantine an und erfährt, dass es am 2. Februar tatsächlich Spaghetti zum Mittagessen gab. Zu Hause hat Latonya vor ihrem Aufbruch in die Bibliothek nichts gegessen. Hat also der Mörder dem Kind noch eine letzte Mahlzeit besorgt?
    Während die Detectives am Rand des Autopsieraums stehen und sich mit Rechtsmedizinern austauschen, kristallisiert sich aus Pellegrinis mulmigem Gefühl, das ihn bereits am Fundort gequält hat, eine Gewissheit: Die Leiche ist zu früh freigegeben worden. Zumindest ein Indiz ist für immer verloren.
    John Smialek, der oberste Rechtsmediziner von Maryland, hat von dem Mord an dem Kind erst erfahren, als die Detectives ihre Arbeit am Fundort der Leiche gerade abschlossen, und war umgehend von seinem Büro zum Reservoir Hill geeilt, nur um festzustellen, dass die Leiche bereits abtransportiert worden war. Damit hatte er keine Gelegenheit mehr, mit einem Rektalthermometer die Körpertemperatur zu messen, was es ermöglicht hätte, den Todeszeitpunkt anhand einer Formel, die den Verlust an Körpertemperatur pro Stunde beschreibt, genauer einzugrenzen.
    Kann der Eintritt des Todes nicht über die Körpertemperatur geschätzt werden, so verbleiben dem Rechtsmediziner der Grad der Leichenstarre und die Totenflecke, die durch das Absinken und die Verdickung des Blutes in den tiefer gelegenen Körperpartien entstehen. Doch die Geschwindigkeit, mit der es zu solchen Veränderungen nach dem Eintritt des Todes kommt, hängt stark von der Größe, dem Gewicht und der Statur des Opfers ab, ebenso von der Körpertemperatur zum Zeitpunkt des Todeseintritts sowie von der Umgebungstemperatur und