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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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Lippen sind leicht geöffnet und kräuseln sich in unbestimmtem Unmut. Ein hübsches Mädchen, auch jetzt noch.
    Sie liegt auf der linken Hüfte, den Kopf zur Seite gedreht, den Rücken nach hinten gebogen, ein Bein über das andere geknickt. Ihr rechter Arm ruht oberhalb des Kopfes, ihr linker ist voll ausgestreckt, die kleinen, schmalen Finger wollen auf dem Asphalt nach etwas oder jemandem greifen. Doch da ist nichts mehr.
    Ein Teil ihres Oberkörpers ist von einem roten Plastikregenmantel umhüllt. Die gelbe Hose aus bedrucktem Stoff ist schmutzig und fleckig. Ihre Bluse und die Nylonjacke unter dem Regenmantel sind zerrissen, große rote Flecken verraten, wo ihr Leben verronnen ist. Ein Würgemal – ein tiefer Abdruck von einem Seil oder einer Schnur – läuft um ihren Hals, direkt unter der Schädelbasis überschneidet sich die Linie. Oberhalb ihres rechten Arms steht eine blaue Stofftasche aufrecht auf dem Asphalt, vollgestopft mit Leihbüchern, ein paar Heften, einem billigen Fotoapparat und einem Schminktäschchen mit Make-up in leuchtendem Rot, Blau und Lila – grellbunte, mädchenhafte Töne, die viel mit Spaß und wenig mit Verführung zu tun haben.
    Elf ist sie.
    Die Detectives und Streifenpolizisten, die sich um die Leiche von Latonya Kim Wallace geschart haben, sind nicht zu den üblichen Scherzen aufgelegt. Sie scheinen ihren rauen Polizeihumor und ihre Abgestumpftheit vergessen zu haben. Jay Landsman äußert nur nüchterne Feststellungen. Tom Pellegrini steht stumm im Nieselregen und skizziert die Szene auf dem feuchten Blatt eines Notizblocks. Hinter ihm ander Hauswand lehnt einer der ersten Polizisten vom Central District, die zum Tatort gekommen sind, eine Hand auf seinen Pistolengürtel gestützt, die andere gedankenverloren am Mikro des Sprechfunkgeräts.
    »Kalt«, sagt er wie zu sich selbst.
    Vom Augenblick ihrer Entdeckung an wurde Latonya Wallace als Inbegriff des Opfers betrachtet, unschuldig wie selten jemand, der in dieser Stadt umgebracht wird. Ein Kind, eine Fünftklässlerin, benutzt und achtlos weggeworfen. Das Werk des Bösen schlechthin.
    Worden hatte als Erster auf den Anruf aus der Zentrale reagiert, in dem ohne Angabe weiterer Einzelheiten eine Leiche auf dem Weg hinter dem 700er-Block an der Newington Avenue in Reservoir Hill, einem Viertel im Stadtzentrum, gemeldet wurde. D’Addarios Leute hatten in der Woche zuvor zur Tagschicht gewechselt, und als das Telefon um 8 Uhr 15 morgens klingelte, tröpfelten seine Detectives gerade zur Frühbesprechung um 8 Uhr 40 herein.
    Worden kritzelte die Angaben auf die Rückseite eines Pfandscheins und schob ihn Landsman hin. »Soll ich das übernehmen?«
    »Lass mal, meine Jungs sind schon alle da«, antwortete der Sergeant. »Garantiert nur ein alter Penner, der die Flasche noch in der Hand hat.«
    Landsman zündete sich eine Zigarette an, sah Pellegrini im Kaffeeraum und ließ sich von einem Detective, der von der Nachtschicht zurückkehrte, die Schlüssel eines Chevy Cavalier geben. Zehn Minuten später forderte er von der Newington Avenue über Funk Verstärkung an.
    Edgerton brach als Erster auf. Danach McAllister, Bowman und Rich Garvey, das Arbeitstier in Roger Nolans Team. Dann Dave Brown von McLarneys Leuten, schließlich Fred Ceruti aus Landsmans Team.
    Pellegrini, Landsman und Edgerton arbeiten im engeren Umkreis der Leiche. Die anderen schwärmen aus: Brown und Bowman schreiten im Nieselregen langsam die angrenzenden Grundstücke und vermüllten Wege ab, die Augen auf den Boden geheftet. Sie suchen nach einer Blutspur, einem Messer, einem Stück bleistiftdickem Seil, das zu dem Würgemal am Hals passen könnte, einem Fetzen Kleidung. Ceruti, gefolgt von Edgerton, klettert über eine hölzerne Leiter auf die Dächer der angrenzenden Häuser und hält Ausschau nach etwas, das man vom Weg aus vielleicht übersieht. Garvey und McAllister verlassen denFundort, um in Erfahrung zu bringen, wo das Mädchen zuletzt gesehen wurde, wozu sie zunächst die vor zwei Tagen aufgegebene Vermisstenanzeige konsultieren, dann Lehrer, Freunde und die Bibliothekarin in der Zweigstelle der Bücherei in der Park Avenue befragen, wo Latonya Wallace zuletzt lebend gesehen wurde.
    In dem Raum, zu dem die Hintertür der Newington Avenue 718 gehört, nur ein paar Schritte von der Leiche entfernt, stellt Pellegrini, umringt von Detectives, Streifenpolizisten und Labortechnikern, die vom Regen durchnässte Tasche auf einen Küchentisch. Landsman öffnet

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