Homicide
eigentlich Blutspuren erwarten, doch der Regen, der von Mittwoch bis Donnerstag über der Stadt niedergegangen ist, hat sie offenbar gründlich weggespült.
Während die Kadetten weitersuchen, geht Rich Garvey noch einmal den Hof hinter der Newington Avenue 718 ab. Er misst ungefährvier mal fünfzehn Meter, ist größtenteils asphaltiert und als eines der wenigen rückwärtigen Grundstücke von einem Maschendrahtzaun eingefasst. Doch statt die Leiche des Kindes einfach auf dem Weg oder einem der leichter zugänglichen Höfe nebenan abzulegen, hat sich der Mörder unerklärlicherweise die Mühe gemacht, das Tor zu öffnen und die Leiche bis zum Hintereingang des Hauses zu tragen. Sie lag nur wenige Schritte von der Küchentür entfernt, am Fuß einer Feuerleiter, die vom Dach in den Hof führt.
Aber wieso? Der Mörder hätte das Mädchen überall auf dem Gelände ablegen können, warum war er das Risiko eingegangen, sie in den umzäunten Hof eines bewohnten Hauses zu tragen? Wollte er etwa den Verdacht auf das ältere Ehepaar lenken, das dort wohnte? Oder überkamen ihn am Ende doch noch Gewissensbisse, eine Regung von Menschlichkeit, die ihn veranlasste, die Leiche nicht so offen den streunenden Hunden und Ratten auszuliefern?
Garveys Blick schweift zum Zaun längs des Wegs, als ihm hinter einer zerbeulten Mülltonne etwas Glänzendes auffällt. Er ist ein kleines, fünfzehn Zentimeter langes Metallrohr, das er vorsichtig an einem Ende aufhebt und gegen das Licht hält. Im Innern der Röhre klebt eine zähe Masse, dem Anschein nach geronnenes Blut, zusammen mit dunklem menschlichem Haar. Die Röhre sieht aus wie ein Teil einer größeren Apparatur. Garvey überlegt stirnrunzelnd, ob vielleicht damit die Vaginalverletzung verursacht worden sein könnte. Der Detective reicht die Röhre einem Labortechniker, der sie in eine Plastiktüte steckt.
Ein Kameramann von einem Fernsehsender, einer von vielen, die an diesem Morgen durch die Newington Avenue laufen, hat die Szene beobachtet und kommt herbei.
»Was war das?«
»Was?«
»Das Stück Metall, das Sie aufgehoben haben.«
»Hören Sie«, sagt Garvey und legt dem Kameramann eine Hand auf die Schulter. »Tun Sie mir einen Gefallen und zeigen Sie das nicht. Es könnte eine Spur sein, aber wenn das im Fernsehen kommt, können wir es wahrscheinlich vergessen. Okay?«
Der Kameramann nickt.
»Besten Dank. Ehrlich.«
»Kein Problem.«
Die Anwesenheit der Fernsehteams in der Newington Avenue an diesem Morgen – alle drei Networks haben eins geschickt – ist auch ein Grund für die Suchaktion der Polizeischüler. Garveys Lieutenant, Gary D’Addario, wusste gleich, was seine Vorgesetzten wollten, als sein Captain aus der Verwaltung herabstieg, um ihm zu erklären, dass die Detectives in Reservoir Hill deutlich Flagge zeigen sollten. Vielleicht, so sagte er, könne man auch was für die Fernsehkameras tun. D’Addario konnte seinen Ärger nicht unterdrücken. Der Fall Latonya Wallace war erst ein paar Stunden alt, und schon verlangte man von ihm, seine Leute allein für die Pressemeute herumzuscheuchen.
Seine Antwort fiel ungewohnt barsch aus: »Ich würde sie lieber mit etwas beschäftigen, das zur Lösung des Falls beiträgt.«
»Ach ja?«, erwiderte der Captain, halb verärgert und halb verlegen. »Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen das verboten hätte.«
Dieser Wortwechsel fand mitten im Großraumbüro des Morddezernats statt, und wer nicht selbst dabei war, erfuhr davon sogleich von anderen. Die meisten fanden, dass D’Addario den Captain aus Frust über seinen Ausschluss von den Ermittlungen im Fall Monroe Street unnötig provoziert hatte. Auch wenn die Anforderung der Polizeischüler parallel zu Anrufen bei den Nachrichtenredaktionen der Fernsehanstalten erfolgte, es waren schon schlechtere Ideen von oben gekommen als die Suchaktion. Außerdem war der Captain ein Captain, und D’Addario war Lieutenant, und wenn dieser Fall in die Hose ging, dann waren es aller Wahrscheinlichkeit nach die unteren Chargen, die es ausbaden mussten. Und als der unmittelbare Vorgesetzte aller beteiligten Detectives lief D’Addario nun höchste Gefahr, ganz allein für den Fall Latonya Wallace gesteinigt zu werden.
Da er nun ohne Rückendeckung der Polizeiführung dastand, legte D’Addario sein Schicksal – und, wie es manchen schien, seine Karriere – in die Hände von Jay Landsman, ein Lästermaul und Komiker, aber der dienstälteste und erfahrenste Sergeant im ganzen
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