Homicide
bleibt die Ermittlung des Todeszeitpunkts auf der Grundlage der nur teilweise verdauten Mahlzeit und der noch nicht eingetretenen Verwesung.
Wie beinahe alles in diesem Fall lässt sich der Zeitpunkt des genauen Todeseintritts nicht hundertprozentig feststellen. Noch bevor sie an jenem Abend den Alten in seiner Wohnung aufstörten, hatte Edgerton Zweifel an der bisherigen Theorie geäußert: »Und was, wenn sie am Dienstagabend getötet wurde? Wieso soll sie eigentlich nicht am späten Dienstagabend oder am frühen Mittwochmorgen getötet worden sein?«
»Unmöglich«, sagte Landsman. »Die Totenstarre löste sich gerade. Und ihre Augen waren noch feucht.«
»Vielleicht löste sich bei ihr die Totenstarre erst nach vierundzwanzig Stunden.«
»Blödsinn, Harry.«
»Ist doch möglich.«
»Quatsch. Das ging eben schneller bei ihr, weil sie noch klein war …«
»Aber draußen war es kalt.«
»Ja, aber der Mörder muss sie irgendwo drin gehabt haben, bis er sie am Morgen entsorgen konnte.«
»Ja, aber …«
»Komm Harry, fang nicht an rumzuspinnen«, sagte Landsman und wedelte mit dem Handbuch der Rechtsmedizin. »Augen noch nicht trocken, keine Verwesung. Zwölf bis achtzehn Stunden, Harry.«
Edgerton überflog die Seite. »Na schön«, sagte er schließlich. »Zwölf bis achtzehn. Und wenn er sie um drei oder vier abgelegt hat … das macht …«
»Mittwoch um die Mittagszeit.«
Edgerton nickte. War sie am Mittwoch getötet worden, war der Fish Man aus dem Schneider und Landsmans Kandidat, der alte Säufer von gegenüber, rückte auf Platz eins der Liste.
»Scheiß drauf«, sagte Landsman schließlich. »Wir haben keinen Grund, uns diesen Typen nicht vorzuknöpfen.«
Keinen Grund, außer dass ihr Tatverdächtiger kaum seine Flasche halten, geschweige denn ein Mädchen von der Straße ins Haus locken und anderthalb Tage gefangen halten kann. Das Verhör dauert nicht lange und ergibt nur, dass der alte Säufer am Donnerstagmorgen von einem Nachbarn von dem Mord gehört hat, der die Neuigkeit wiederum von einer Frau hatte, die in der Newington 718 wohnt. Mehr wisse er nicht von dem Mord. Das Mädchen kenne er nicht. An die alten Vorwürfe aus der Akte könne er sich kaum erinnern und was immer da war, er sei unschuldig. Er wolle nach Hause.
Ein Labortechniker unterzieht Edgertons Proben einem Leukomalachittest, einer chemischen Untersuchung, in der sich ein mit der Chemikalie getränktes Wattestäbchen in Kontakt mit der Probe blau färbt, wenn sie auch nur die geringste Spur von Blut – egal, ob tierisches oder menschliches – enthält. Edgerton sieht zu, wie die Probestäbchen eins nach dem anderen dunkelgrau werden. Dreck, sonst nichts.
Ein paar Stunden vor Morgengrauen – der Alte ist inzwischen mit einem Streifenwagen in seine Anonymität zurückbefördert worden, und die Detectives tippen ihre Tagesberichte – bringt Pellegrini auf seine trockene Art eine neue Möglichkeit auf.
»Ed, du willst doch den Fall knacken?«
Brown und Ceruti blicken erstaunt auf. Andere Detectives schauen neugierig herüber.
»Ich sage euch, wie.«
»Und wie?«
»Ed formuliert die Vorwürfe.«
»Und?«
»Und du, Fred, liest mir meine Rechte vor …«
Schallendes Gelächter von allen Seiten.
»Na klasse«, prustet Landsman. »He!, Jungs! Findet ihr nicht auch, dass Tom die Sache langsam ein bisschen mitnimmt? Taufrisch sieht er jedenfalls nicht mehr aus.« Pellegrini grinst verlegen. Tatsächlich wirkt er ein bisschen ausgebrannt. Sein Erscheinungsbild ist fast das eines typischen Italieners: dunkle Augen, scharfe Gesichtszüge, etwas untersetzt, dichter Schnurrbart und eine pechschwarze Schmalzlocke, die an guten Tagen den Gesetzen der Schwerkraft trotzt. Aber heute ist kein guter Tag. Sein Blick ist verhangen, die Haartolle klebt ihm in einer dunklen, zerfransten Welle auf der bleichen Stirn. Wenn er den Mund aufmacht, klingt er breit und träge wie ein unausgeschlafener Hinterwäldler.
Alle kennen das, alle haben schon als Primary Detective 120 Stunden Dienst in einer Woche geschoben, wenn es in einem Fall einfach nicht vorwärts ging und alle ermittelten Fakten zu keinem Verdächtigen führten, egal, wie lange man sie wälzte. Ein offener Red Ball ist eine Folternummer, eine Schinderei, die an die Nieren geht und einen Detective stärker formt und zeichnet, als ein gelöster Fall es je kann. Und für Pellegrini, den Neuling in Landsmans Team, entwickelt sich der Mordfall Latonya Wallace zu einer besonders
Weitere Kostenlose Bücher