Homicide
zugänglichen, unaussprechlichen Körperstellen kratzt, wo genau, will selbst Landsman sich nicht vorstellen. Vor einer Stunde aus seinem Dämmerzustand und seinem Dreckloch aufgescheucht, ist er nun hellwach und wartet geduldig in dem Verschlag. Sein Atem geht pfeifend und regelmäßig.
Das sieht nicht gut aus, entspricht es doch eindeutig Mordermittlungsregel Vier, die besagt, dass ein Tatverdächtiger, den man allein im Verhörraum warten lässt, sich nur dann die Augen reibt, hellwach die Wände anstarrt und sich an schwer zugänglichen, unaussprechlichen Körperstellen kratzt, wenn er unschuldig ist. Wer etwas auf dem Kerbholz hat, der schläft in dieser Situation auf der Stelle ein.
Wie die meisten Verhörtheorien kann man aber auch die Regel vom schuldigen Schläfer nicht verallgemeinern. Neulinge, denen die Last von Schuld und Sühne noch ungewohnt ist, plappern bisweilen vor und während eines Verhörs einfach drauflos, sie bekommen Schweißausbrüche oder fangen sogar an zu kotzen. Aber was Landsman jetzt sieht, ist nicht gerade ermutigend. Der Alte aus der Newington Avenue, den sie besoffen und zerzaust mitten in der Nacht aus dem Bett geholt haben, zeigt keinerlei Anzeichen, sich in seinen beduselten Zustand zu flüchten. Der Sergeant geht kopfschüttelnd ins Büro zurück.
»Scheiße, Tom, das sah aber besser aus mit dem, bevor wir ihn hier hatten«, sagt Landsman. »Das ist doch wirklich nur ein alter Säufer.«
Pellegrini nickt. Die kurze Verwandlung eines alten Säufers in einen mutmaßlichen Kinderschänder und zurück in einen harmlosen Alkoholiker ist abgeschlossen. Der Alte selbst hat von dieser blitzartigen, dreitägigen Metamorphose überhaupt nichts mitbekommen.
Dabei hatte alles so gut ausgesehen, als die Imbissbetreiberin in der Whitelock Street Landsman und Brown den Namen des Alten nannte.
Immerhin hat er der Frau schon um neun Uhr von dem Kindermord berichtet – noch während die Detectives am Fundort beschäftigt waren –, und er hat sich dabei merkwürdig benommen. Wie aber konnte er zu diesem Zeitpunkt von dem Mord an dem Mädchen wissen? Zwar hat auch das ältere Paar, das in der Newington 718 wohnt, Nachbarn von seiner Entdeckung berichtet, bevor es die Polizei rief, mit dem Alten hat es aber offenbar keinen Kontakt gehabt. Außerdem haben die Detectives umgehend die Gaffer vertrieben, und da der Alte auf der Südseite der Straße wohnt, kann er die Leiche eigentlich nicht gesehen haben.
Außerdem wurde vor langer Zeit wegen Sexualdelikten gegen ihn ermittelt – zu einer Verurteilung hat es allerdings nicht gereicht. Immerhin finden die Detectives in den Akten vom Zentralregister, dass es dabei einmal auch um ein junges Mädchen ging. Außerdem lebt der Alte allein in einer Erdgeschosswohnung im 700er-Block der Newington, unweit vom Fundort der Leiche.
Trotzdem bleibt das alles vielleicht ein bisschen dünn. Aber Landsman und Pellegrini ist auch bewusst, dass seit der Entdeckung der Leiche schon vier Tage vergangen sind, und etwas Besseres haben sie im Augenblick nicht. Ihren ersten und aussichtsreichsten Kandidaten – den Fish Man – haben sie schon zwei Tage zuvor auf dem Präsidium erfolglos in die Mangel genommen.
Der Fish Man zeigte sich ziemlich desinteressiert am Tod des Kindes, das einmal in seinem Laden gearbeitet hat. Er gab sich nicht einmal die Mühe, genau zu überlegen, wo er am Dienstag und Mittwoch gewesen war. Nachdem ihm erst überhaupt nichts einfallen wollte, brachte er für den Dienstag, an dem Latonya Wallace verschwunden war, doch noch ein Alibi. Angeblich hatte er mit einem Freund eine Besorgungsfahrt ans andere Ende der Stadt unternommen. Bei der Überprüfung fanden Pellegrini und Edgerton heraus, dass die Fahrt in Wirklichkeitam Mittwoch stattgefunden hat. Hatte der Alte gelogen oder sich schlicht geirrt? Bei derselben Gelegenheit erfuhren die Detectives, dass der Fish Man am Mittwochabend zwei Freunde zum Hühnchenessen in seine Wohnung eingeladen hat. Damit ergibt sich nun ein Problem: Wenn, wie man nach der Autopsie vermuten muss, Latonya Wallace am Dienstag entführt, am Mittwochabend getötet und ihre Leiche in den frühen Morgenstunden des Donnerstag beseitigt worden ist, wie hat der Fish Man dann am Mittwochnachmittag Besorgungen machen und am Abend Gäste zum Hühnchenessen haben können? Immerhin lässt die Vernehmung des Fish Man vom Samstag genug Fragen offen, um ihn weiterhin als Tatverdächtigen einzustufen. Das große Problem
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