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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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hat. Doch vielleicht war es auch keiner von ihnen. Aber was die Detectives und Uniformierten in den sechs Stunden in der Newington 702 gesehen haben, reicht für eine Anklage ganz anderer Art.
    Es hat nichts mit Armut zu tun. Jeder Polizist, der ein Jahr auf derStraße war, weiß, was Armut ist. Einige, wie Brown und Ceruti, stammen selbst aus einfachen Verhältnissen. Und es hat auch wenig mit Kriminalität zu tun, trotz der vielen Vorstrafen, des Berichts über sexuellen Missbrauch einer Sechsjährigen und der Teenager, die man beim Schnüffeln erwischt hat. Jeder Cop, der in der Newington 702 war, sieht Tag für Tag Kriminalität, sie alle haben Verbrecher ohne Emotionen längst als ihre tägliche Kundschaft akzeptiert, als notwendige Figuren in einem Sittenspiel, genau wie Anwälte und Richter, Bewährungshelfer und Gefängniswärter.
    Die Verachtung, die sie den Männern in der Newington 702 zeigen, hat einen tieferen Grund. Sie beruht auf der Überzeugung, dass manche Menschen zwar arm und einige auch kriminell sein mögen, dass es aber selbst im schlimmsten amerikanischen Slum Abgründe gibt, in die sich niemand wirklich fallen zu lassen braucht. Ein Detective des Morddezernats rückt alle paar Tage zu einer gottverlassenen Bruchbude aus, in der garantiert keine Steuerzahler wohnen. Schimmlige Wände, bucklige, gesplitterte Dielen, Schaben in der Küche, die schon lange nicht mehr weglaufen, wenn man das Licht anknipst. Und trotzdem findet man fast überall noch kleine Zeichen menschlichen Strebens, eines Kampfes, der so alt ist wie das Ghetto selbst: an die Wand gepinnte Polaroidschnappschüsse, die einen Jungen im Halloweenkostüm zeigen, eine Bastelarbeit, die ein Kind seiner Mutter zum Valentinstag geschenkt hat, der Wochenplan fürs Schulessen an der bauchigen Tür des uralten Kühlschranks, Fotos von einem Dutzend Enkelkindern, alle in einen einzigen Rahmen geklemmt, Plastikschutzbezüge über einem neuen Sofa im Wohnzimmer inmitten wackliger, versiffter Möbel, das unvermeidliche Kitschbild vom Letzten Abendmahl oder eine Christusdarstellung mit Heiligenschein. Manchmal ist es auch ein auf Pappe, Papier oder schwarzen Samt gespraytes Bild von Martin Luther King, die Augen gen Himmel gerichtet, den Kopf von Zitaten aus seiner berühmten »I have a dream«-Rede umkränzt. Das sind Häuser, in denen immer noch eine weinende Mutter vor die Tür tritt, wenn die Polizei draußen vorfährt, wo die Polizisten genug über die Bewohner wissen, um sie korrekt anzusprechen, wo die Uniformierten die Kids fragen, ob die Handschellen nicht zu stramm sitzen, und ihnen schützend die Hand auf den Kopf legen, wenn sie in den Streifenwagen bugsieren.
    Aber in diesem Haus in der Newington Avenue leben zwei Dutzend Menschen, die einfach liegen lassen, was ihnen aus der Hand fällt, die schmutzige Kleider und Windeln höchstens noch in die Zimmerecke schieben, die sich nicht rühren, wenn Ungeziefer über ihr Bettlaken krabbelt, die eine Flasche Mad Dog oder T-Bird leeren und dann in einen Plastikeimer pinkeln, der am Fußende des Betts steht, für die Reinigungsmittel und Plastiktüten nur Requisiten ihrer Abendunterhaltung sind. Man kennt Berichte, dass KZ-Insassen, als sie vom Herannahen der Befreier hörten, ihre Baracken fegten und schrubbten, um der Welt zu zeigen, dass auch dort menschliche Wesen lebten. Doch die Bewohner der Newington Avenue haben den Rubikon der Menschlichkeit überschritten. Über den täglichen Kampf machen sie sich höchstens noch lustig, und ihre bedingungslose Kapitulation lastet schwer auf der Generation, die dort nachwächst.
    Die Detectives in dem Haus empfinden nur noch Verachtung und Zorn. So glauben sie jedenfalls, bis am frühen Morgen nach der Durchsuchung ein Zehnjähriger in einem schmutzstarrenden Orioles-Sweatshirt und Jeans sich aus dem Kreis dieser menschlichen Wracks erhebt und Eddie Brown am Ärmel zupft. Er möchte etwas aus seinem Zimmer haben.
    »Was brauchst du denn?«
    »Meine Hausaufgaben.«
    Brown stutzt ungläubig. »Hausaufgaben?«
    »Sie sind in meinem Zimmer.«
    »In welchem?«
    »Oben, das erste.«
    »Was genau? Ich hole es dir.
    »Mein Arbeitsbuch und ein paar Hefte, aber ich weiß nicht, wo ich sie hingelegt habe.«
    Und so folgt Brown dem Jungen in das größte Zimmer im ersten Stock und sieht zu, wie der Kleine ein Lesebuch für das dritte Schuljahr und ein Arbeitsbuch von einem voll gerümpelten Tisch aufklaubt.
    »Was für Hausaufgaben sind das

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