Homicide
Verantwortlicher für den Fall, als der Mann, der die Ermittlungen geleitet hat, muss Terry McLarney nun abliefern und die Sache zu einem guten Ende führen.
Zu dem Druck, unter dem er steht, kommt noch ein unerklärliches, unausgesprochenes Schuldgefühl. McLarney war nicht im Büro, als der Einsatz an jenem warmen Oktoberabend ins Morddezernat durchgegeben wurde. Er war nach seiner Nachmittagsschicht losgefahren, als um Mitternacht die Ablösung kam, und hörte von der Schießerei erst, als er von einer Bar aus noch einmal anrief.
Officer im Western niedergeschossen.
Kopfschüsse.
Cassidy.
Es ist Cassidy.
McLarney raste zurück ins Büro. Hier ging es für ihn um mehr als einen angeschossenen Polizisten. Cassidy war sein Freund, ein aufstrebender Streifenpolizist, den MacLarney während seines kurzen Abstechers als Sector Sergeant im Western District betreut hatte. Der Junge war talentiert – intelligent, hart, fair –, der ideale Mann für den Straßeneinsatz. Sie blieben miteinander in Kontakt, auch als McLarney wieder zum Morddezernat zurückkehrte. Jetzt war Cassidy angeschossen worden. Und vielleicht musste er sterben.
Sie fanden ihn aufrecht sitzend an der Nordwestecke der Appleton Street und Mosher Street. Jim Bowen, der ein paar Blocks weiter Streife gelaufen war, entdeckte ihn als Erster. Die Verwundung war so schrecklich, dass er seinen Kollegen im ersten Augenblick gar nicht erkannte. Cassidys Gesicht war ein einziger blutiger Brei. Bowen ging in die Knie, um das Namensschild auf der Uniform zu lesen: Cassidy. Bowen sah, dass Genes Pistole im Holster steckte und sein Schlagstock im Streifenwagen lag, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Rasch kamen weitere Polizisten vom Western District hinzu, einer entsetzter als der andere.
»Gene, Gene … Mensch, Junge!«
»Gene, hörst du mich?«
»Gene, weißt du, wer auf dich geschossen hat?«
Cassidy sprach nur ein einziges Wort.
»Ja.«
Der Rettungswagen hatte es nicht weit bis zur Unfallchirurgie des Universitätskrankenhauses. Die Ärzte gaben Cassidy eine Überlebenschance von vier Prozent. Eine Kugel hatte ihn in die linke Wange getroffen,sich nach oben in den Schädel gebohrt und den Sehnerv des rechten Auges zerstört. Die andere Kugel schlug in seiner linken Gesichtshälfte ein, zerschmetterte das andere Auge und stürzte Gene Cassidy in Dunkelheit, bevor sie sich in sein Gehirn wühlte, unerreichbar für die Skalpelle der Chirurgen. Diese zweite Kugel ließ die Ärzte das Schlimmste befürchten: Selbst wenn der siebenundzwanzigjährige Polizist mit dem Leben davonkam, sein Gehirn würde mit hoher Wahrscheinlichkeit dauerhafte Schäden davontragen.
Sie hielten die ganze Nacht Wache an seinem Bett in der Intensivstation. Zwei Leute vom Western holten Cassidys junge Frau. Dann kam die Parade der weißen Mützen mit den Goldtressen – Colonels und die beiden stellvertretende Polizeichefs –, gefolgt von Detectives, Chirurgen und einem katholischen Priester, der Cassidy die letzte Ölung gab.
In den ersten Stunden war alles wie immer, wenn auf einen Polizisten geschossen wurde. Ein Großaufgebot aufgebrachter Detectives und Uniformierter des Western District durchkämmte das Gebiet rund um die Mosher und Appleton und knöpfte sich jeden vor, der auf der Straße herumlief. Einwohner, Straßendealer, Junkies, Penner – alles, was auf den Beinen war, wurde aufgegriffen, eingeschüchtert, bedroht. Zwei Kugeln aus nächster Nähe, das war eine Kriegserklärung. Sofern zwischen der Polizei und den Einwohnern im Western District eine gewisse Einvernehmlichkeit geherrscht hatte, war sie nun aufgekündigt.
In dieser ersten Nacht, der Unglücksnacht, war McLarney der schärfste unter allen Vorgesetzten des Dezernats. Rasend vor Zorn knöpfte er sich einen möglichen Zeugen nach dem anderen vor, er schrie, er drohte und pflanzte die Furcht vor Gott, dem Teufel und T. P. McLarney ins Herz von allen, die seinen Weg kreuzten. Wenn ein Polizist erschossen wird, kommt keiner mehr mit dem Spruch »Hab’ nichts gesehen« durch. Der Druck, den McLarney entfaltete, grenzte an Wüterei. Die Detectives, die unter ihm arbeiteten, sahen darin beinahe so etwas wie den Wunsch nach Buße, ein wildes Gehabe, mit dem er die schlichte Tatsache auszugleichen versuchte, dass er vor einem Bier gesessen hatte, als der Anruf kam.
Dabei war McLarneys relativ früher Aufbruch an diesem Abend keineswegs etwas Besonderes. Die Arbeitszeit im Morddezernat ist
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