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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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war er nach seiner Freilassung auf Kaution abgetaucht. Sie erwirkten einen neuen Haftbefehl für ihn und setzten ihre Suche nach Owens fort. Gerade als die Dreizehnjährige später in dieserNacht ihre Aussage unterzeichnete, tauchte Anthony Owens im Central District auf und erklärte: »Ich bin der Typ, der angeblich auf den Polizisten geschossen hat.«
    Er hatte sich aus Angst gestellt, dass man ihn verprügeln oder gar töten würde, wenn man ihn in den Straßen des Western District aufgriff, eine keineswegs unbegründete Furcht. Die Detectives konnten McLarney zwar bremsen, doch ganz ohne Schläge kam Owens nicht durch die erkennungsdienstliche Behandlung, die vorübergehende Verwahrung und die Überstellung ins Gefängnis. Eine Brutalität, gewiss, aber keine zügellose, und vielleicht verstand sogar Anthony Owens, dass dergleichen unvermeidlich war, wenn ein Polizist zwei Kopfschüsse abbekommen hatte. Jedenfalls steckte er die Schläge klaglos weg.
    Vier Tage nach seiner ersten Operation schwebte Gene Cassidy zwischen Leben und Tod. Er lag im Halbkoma auf der Intensivstation. Seine Frau, seine Mutter und sein Bruder wichen nicht von seinem Bett. Die Vorgesetzten waren nach dem Besuch in der ersten Nacht nicht wiedergekommen, aber Freunde und Polizisten aus dem Western District unterstützten die Familie. Jeden Tag machten die Ärzte neue Prognosen, doch es dauerte zwei volle Wochen, bevor Cassidy ein Lebenszeichen von sich gab. Er stöhnte laut, als eine Schwester ihm die Verbände wechselte.
    »O Gene«, sagte die Schwester, »das Leben ist hart.«
    »Ja«, brachte Cassidy mühsam hervor, »echt hart.«
    Er war blind. Die Kugel, die in sein Hirn eingedrungen war, hatte auch seinen Geruchs- und Geschmackssinn zerstört. Das waren die irreparablen Schäden; daneben musste er das Sprechen, das Gehen und die Koordination seiner Bewegungen von Grund auf neu lernen. Als die Ärzte sich sicher waren, dass ihr Patient überleben würde, schätzten sie seinen weiteren Klinikaufenthalt auf vier Monate, an die sich viele Wochen Rehabilitationsmaßnahmen anschließen würden. Doch zu ihrem Erstaunen konnte Cassidy schon nach drei Wochen mit Unterstützung laufen und begann, mit Hilfe eines Sprachtherapeuten seinen verlorenen Wortschatz aufzufüllen. Bald war klar, dass seine höheren Gehirnfunktionen nicht dauerhaft gelitten hatten. Nach nur einem Monat konnte er die Unfallstation verlassen.
    Kaum hatte Cassidy wieder Anschluss an die Welt gefunden, stellten ihm McLarney und Gary Dunnigan, der leitende Ermittler des Falls, Fragen. Sie hofften, die Vorwürfe gegen Owens erhärten zu können, indem er sich an Details erinnerte oder den Täter beschrieb. Vielleicht kannte er ihn sogar? Doch zu ihrer großen Enttäuschung war das Letzte, woran sich Cassidy erinnerte, dass er vor Dienstantritt bei seinem Schwiegervater einen Hotdog gegessen hatte. Außer der vagen Erinnerung, wie sich John Bowen im Rettungswagen über ihn beugte – die Ärzte bezweifelten, dass er das mitbekommen hatte –, war alles wie ausgelöscht.
    Als sie ihm von der Aussage des jungen Owens berichteten, nämlich, dass er ohne jeden Anlass angeschossen worden sei, als er sich die Dealer an einer Straßenecke vornehmen wollte, konnte sich Cassidy an nichts erinnern. Wie, ich habe meinen Schlagstock im Wagen gelassen, als ich ein paar Dealer aufmischen wollte? Und seit wann wurde denn an der Ecke Appleton/Mosher überhaupt gedealt? Cassidy war seit einem Jahr in diesem Revier unterwegs und hatte dort noch nie einen Dealer gesehen. Für Cassidy ergab diese Version keinen Sinn, aber eine eigene konnte er nicht präsentieren.
    Es gab noch etwas anderes, an das sich Cassidy nicht erinnern konnte, ein Vorfall, der sich eines Nachts im Krankenhaus ereignet hatte, in der Zeit, als in seinem Kopf noch graue Nebelschleier waberten. Irgendetwas machte Klick in Cassidy, er glaubte sich auf einmal im Western District, erhob sich aus dem Bett und machte seine ersten Schritte seit der Appleton Street. Langsam näherte er sich dem Bett seines Zimmernachbarn, eines fünfzehnjährigen Jungen, der einen Autounfall gehabt hatte.
    »He!«, sagte Cassidy.
    Der Junge schlug die Augen auf und sah ein Gespenst in einem Krankenhauskittel vor sich, mit blinden und zugeschwollenen Augen, den Kopf rasiert und mit frischen Operationsnarben überzogen.
    »Was gibt’s denn?«, fragte der Junge.
    »Sie sind verhaftet.«
    »Wie bitte?«
    »Sie sind verhaftet.«
    »Mister, Sie sollten

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