Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)

gemacht.“

Dem Lagebericht sah man an, dass sein Verfasser es nicht gewohnt war, auf einer Schreibmaschine zu schreiben, er wimmelte von Tippfehlern und war mehrmals von Hand korrigiert, aber Brian konnte den Text lesen, und das zählte.
    „Es begann am Mittag des 7. Juni“, sagte Mary Taydon. „Am Abend des 7. Juni waren dann sämtliche vernetzte Computersysteme weltweit zusammengebrochen. Diese Information ist inzwischen abgesichert. Wie es jedoch dazu kam, wissen wir nicht. Die sogenannten Experten“, Mary betonte das Worte Experte so, dass klar war, dass sie deren Expertise bezweifelte, „also, die Experten sind sich einig, dass infizierte Daten der Auslöser waren. Dabei war der Übertragungsweg, ob Lichtimpulse, Funk oder direkte physische Verbindung, irrelevant. Sekunden nach der Datenübertragung fielen die infizierten Systeme aus, konnten nicht mehr gestartet werden und mussten vollständig neu installiert werden.“
    „Gab es Auffälligkeiten?“, fragte Brian.
    „Ja, die Systeme stürzten alle mit der Meldung Memory overflow ab. Kurz vor dem Absturz kam es zu einer rapiden Zunahme der Datenmenge, ein Phänomen, für das es zahlreiche Theorien gibt, von denen allerdings keine überzeugend ist. Bis auf eine, die ich allerdings vor allem aufgrund der Person, die sie geäußert hat, interessant finde. Kennst du einen gewissen Woods? Den Vornamen habe ich vergessen, er ist ein junger, sehr intelligenter Bursche, groß, hager, mit auffällig dünnen, blonden Haaren.“
    „Steve Woods gehört seit einem Jahr zur Truppe von Bob Bloth, Bloth bezeichnet ihn als zukünftiges Computergenie. Ist, glaube ich, knapp zwanzig, was meint er?“
    „Er vermutet, dass alle Datenspeicher, die am 7. Juni zusammenbrachen, zumindest zum Großteil bereits infiziert waren.“
    „Das ist unwahrscheinlich, Mary, es ist theoretisch möglich, das ja, aber praktisch bei über einer Milliarde aktiver Computersysteme kaum oder eigentlich gar nicht vorstellbar.“
    „Das sagen auch die anderen Experten.“
    „Aber wie ich dich kenne, Mary, hat dich das nicht überzeugt. Was hat denn der Wunderknabe noch gesagt?“
    „Er hat mehrere Computer neu aufgesetzt, und sobald er sie mit einem infizierten Datenträger in Verbindung brachte, dauerte es lediglich wenige Minuten, bis auch die Datenspeicher der neuen Computer verrücktspielten. Er sagte, die Daten vermehrten sich willkürlich und veränderten sich.“
    „Verändern?“, hakte Brian nach.
    „Ja, verändern. Die Daten wurden nicht gelöscht, sondern umgeschrieben, unlesbar umgeschrieben. Woods ist der Meinung, dass die Daten aller betroffenen Datenspeicher unwiederbringlich zerstört sind.“
    Brian schwieg. Die Konsequenzen wären ungeheuerlich. „Wenn Woods recht hat, könnten sämtliche Datenbanksysteme zerstört sein. Auch die Backups, sie sind ja nur eine Kopie einer Datenbank auf einem separaten Datenspeicher. Dann kann man so oft gesichert haben, wie man will, wenn das Problem in den Daten selbst liegt …“
    „… dann existieren nur noch Daten, die auf computerunabhängigen Medien dokumentiert sind. Wie zum Beispiel Papier“, ergänzte Mary.
    „Papier scheint gerade wieder in Mode zu kommen“, antwortete Brian zynisch. „Ist dir bewusst, was los wäre, wenn Woods’ Vermutung stimmt?“
    „Ehrlich? Nicht wirklich. Brian, du weißt ja, meine Stärken liegen in der Kenntnis der menschlichen Psyche.“
    „Wenn keine Datenbanken mehr existieren, dann funktioniert gar nichts mehr. Keine Einwohnerkontrolle, keine Pass-, Sozialversicherungs- und keine Steuernummer, keine Beamten-, Angestellten-, Studentenverzeichnisse. Der Staat kennt seine Bürger nicht mehr, die Unternehmen nicht mehr ihre Mitarbeiter und Kunden. Alles nur, weil diese Informationen nicht mehr verfügbar sind. Kein Bankangestellter weiß mehr, wie viel Geld seine Bank verwaltet und wer ein Konto mit welchem Beitrag führt …“
    „Brian, genug. Ich hab das schon zu oft gehört. Die Konsequenzen sind so ungeheuerlich, dass sie keiner glauben mag. Das ist wohl auch der Grund, warum zumindest im Moment noch niemand Woods ernst nimmt. Niemand will es glauben.“
    „Seit rund zwanzig Jahren führen weltweit alle Behörden und Firmen nur noch Online-Dokumentations-Datenbanken, sie drucken die Daten nicht mehr aus und dokumentieren sie auch nicht auf Mikrofiche. Über meinem Arbeitstisch hängt mein letzter Kontoauszug auf Papier, vom 31. Dezember 2021. Das ist ein historisches Dokument. Wenn