Honeymoon
hatten sich zu verziehen begonnen, jetzt fielen Sonnenstrahlen schräg durch die Schlitze der Jalousie ins Zimmer. Nora griff sich den Stuhl in der Ecke und stellte ihn ans Bett.
»Du siehst gut aus, Mutter.«
Jede Tochter hätte das sagen können. Der Unterschied war, dass Nora es tatsächlich glaubte. Sie sah ihre Mutter längst nicht mehr mit den Augen, sondern nur noch durch ihre Erinnerungen. Es war eine tief verwurzelte Gewohnheit. Nachdem Olivia verurteilt worden war, hatte Nora sie nie im Gefängnis besuchen dürfen. Sie war herangewachsen, während das Bild ihrer Mutter über Jahre unverändert geblieben war. Nora war von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht worden, und in dieser ganzen Zeit war ihre Vorstellung von Olivia eine der wenigen Konstanten in ihrem Leben gewesen.
»Ich lese gern.«
Ach, Mist! »Das weiß ich doch, Mom. Ich fürchte, diesmal habe ich glatt vergessen, dir ein Buch mitzubringen. Es war alles ein bisschen ... na ja, wie soll ich sagen ...«
Draußen auf dem Klinikgelände sprang ein Rasenmähermotor an. Das harsche, knatternde Geräusch erfüllte den Raum und ließ Nora zusammenfahren. Sie fühlte sich plötzlich wie gelähmt und musste nach Luft ringen. Das Einzige, was noch funktionierte, waren ihre Tränen. Ihre Fassade bröckelte, und die Außenwelt stürmte auf sie ein. Sie wischte sich die Augen.
»Es tut mir Leid, Mutter.«
Zum ersten Mal erzählte Nora von ihrem immer wiederkehrenden Traum, in dem sie zusah, wie Olivia Noras Vater erschoss. Wie lebhaft ihr die Ereignisse dieses Abends noch in Erinnerung waren. Was gesprochen worden war, was die Beteiligten angehabt hatten, sogar der Schwefelgeruch.
Was bringt es? Sie weiß doch nicht einmal, wer ich bin.
Nora nahm sich hastig ein Taschentuch vom Nachttisch. Es war, als sei ein Damm gebrochen. Ihre Tränen – ihre Gefühle – alles strömte hervor. Sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Da war nur noch der überwältigende Drang, sich irgendjemandem anzuvertrauen.
Nora atmete so tief ein, wie sie nur konnte, entlockte ihren Lungen den letzten Rest an Volumen. Dann ließ sie die Luft langsam entweichen, schloss die Augen und begann. »Ich habe etwas Schreckliches getan, Mutter. Ich muss dir davon erzählen.«
Nora schlug die Augen auf; die Wahrheit lag ihr auf der Zunge. Aber da blieb sie auch. Etwas sehr Schlimmes passierte mit ihrer Mutter.
Nora sprang von ihrem Stuhl auf, rannte zur Tür und riss sie auf. Sie schrie in den Flur hinaus: »Hilfe! Schnell, ich brauche Hilfe! Meine Mutter stirbt!«
54
Schwester Barrows blickte erschrocken von ihrem Medikationsprotokoll auf. Ihr Kopf schnellte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Sie hatte Noras Stimme sofort erkannt.
Eilig umkurvte sie den Tresen der Stationszentrale und rief zugleich nach Patsy, die gerade im Vorratsraum war.
Als sie um die Ecke bog, sah sie Nora am Ende des Flurs schon wild mit den Armen rudern. Sie war noch knapp dreißig Meter von Olivia Sinclairs Zimmer entfernt, und Emily legte die Strecke schneller zurück, als man es ihr bei ihrer untersetzten Figur zugetraut hätte.
»Was ist?«, rief Emily laut. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht«, schrie Nora. »Sie ist...«
Emily stürmte geradewegs an ihr vorbei ins Zimmer. Was sie da sah, erinnerte an eine Szene aus dem Horrorschocker
Der Exorzist
. Olivia Sinclair lag von Krämpfen geschüttelt auf dem Bett, den Rumpf vollkommen starr ausgestreckt, während ihre Arme und Beine von unkontrollierten Zuckungen erfasst wurden. Das Rattern des eisernen Bettgestells schwoll zu einem ohrenbetäubenden Getöse an.
Aber trotz allem, was um sie herum vorging – einschließlich Noras totaler Panik –, wurde Emily Barrows von einem Augenblick auf den anderen vollkommen ruhig. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah Patsy, die just in diesem Moment das Zimmer erreicht hatte.
»Komm, hilf mir«, sagte sie zu der jüngeren Schwester.
Patsy trat mit raschen, nervösen Schritten näher.
»Ist das dein erster Anfall?«, fragte Emily.
Patsy nickte.
»Okay, du machst jetzt Folgendes. Zuerst rollst du sie auf die Seite, damit sie nicht erstickt, wenn sie sich erbrechen muss«, erklärte Emily. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und nickte Patsy aufmunternd zu, die immer noch wie erstarrt schien. »Steh nicht da wie ein Ölgötze, Mädchen.«
Patsy riss sich aus ihrer Trance los und wälzte Olivia mit hektischen Bewegungen auf die Seite. »Okay, und was
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