Hongkong 02 - Noble House Hongkong
eine Akte in einem grauen Umschlag unter seinen Papieren«, flüsterte er rasch.
»Gibt es hier einen Safe oder sonst ein geheimes Versteck?« fragte Kwok ebenso vorsichtig im gleichen Dialekt.
»Die Dienerschaft sagt, in seinem Büro, im oberen Stockwerk.« Der Mann war Weinkellner Feng, und er gehörte zum Geheimdienst des SI. Seine Tarnung als Kellner der Firma, die das Arrangement der besten und exklusivsten Partys Hongkongs besorgte, machte ihn besonders wertvoll. »Vielleicht hinter dem Bild. Ich habe gehört …« Feng unterbrach sich und schaltete auf Pidgin-Englisch um. »Champ-igynee, Missee?« fragte er mit albernem Gesichtsausdruck und bot der kleinen alten eurasischen Dame an, die auf sie zukam.
»Bleib mir mit deinem Missee vom Leib, impertinenter Schlingel«, fuhr sie ihn hochnäsig auf Kantonesisch an.
»Ja, Geehrte Großtante, tut mir leid, Geehrte Großtante.« Er grinste und zog ab.
»Na, Brian Kwok«, begrüßte ihn die alte Dame und luchste zu ihm auf. Es war Sarah Tschen, Philip Tschens Tante, achtundachtzig Jahre alt, eine kleine Person mit blasser weißer Haut und einem Vogelgesicht, in dem asiatische Augen hin und her eilten. Sie machte einen gebrechlichen Eindruck, aber ihr Rücken war gerade und ihr Geist wach und stark. »Ich freue mich, dich zu sehen. Wo ist John Tschen? Wo ist mein armer Großneffe?«
»Ich weiß es nicht, Große Dame«, antwortete er höflich.
»Wann bringst du mir meinen Großneffen Nummer Eins zurück?«
»Bald. Wir tun, was wir können.«
»Gut. Und leg Philip nichts in den Weg, wenn er das Lösegeld privat zahlen will! Kümmere dich darum!«
»Ich werde tun, was ich kann. Ist Johns Frau hier?«
»Nein. Sie kam früher, aber als dieses Weib eintraf, hatte sie plötzlich Kopfschmerzen und ging. Ha! Ich kann sie verstehen!« Mit ihren alten wäßrigen Augen folgte sie Dianna Tschen durch den Saal. »Ha, dieses Weib! Hast du ihr Entree gesehen?«
»Nein, Große Dame.«
»Ha, wie Dame Nellie Melba persönlich! Taschentuch an den Augen, kam sie hereingerauscht, ihren ältesten Sohn Kevin im Schlepp – ich mag den Jungen nicht –, und mein armer Neffe Philip zottelte wie ein Küchenjunge hinterher. Ha! Das einzige Mal, daß Dianna Tschen je geweint hat, das war beim Krach 1956, als ihre Aktien fielen und sie ein Vermögen verlor und sich die Hose näßte. Ha! Schau nur, wie sie sich herausgeputzt hat! Widerlich!« Sie wandte den Blick zu Brian Kwok zurück.
»Finde mir meinen Großneffen John – ich will weder dieses Weib noch ihren Balg als loh-pan unseres Hauses sehen!«
»Aber Tai-Pan darf er doch werden?«
Sie lachten beide. Nur wenige Europäer wußten, daß Tai-Pan zwar ›Großer Führer‹ bedeutete, in alten Zeiten jedoch in China ein Tai-Pan der in der Umgangssprache gebräuchliche Titel eines Mannes war, der ein Bordell leitete oder eine Bedürfnisanstalt betrieb. Darum würde ein Chinese nie daran denken, sich Tai-Pan zu nennen, nur loh-pan – was ebenfalls ›Großer Führer‹ bedeutete. Es belustigte Chinesen und Eurasier über die Maßen, daß es den Europäern Freude machte, sich Tai-Pan zu titulieren.
»Wenn er der richtige pan ist, warum nicht?« antwortete die Greisin, und beide kicherten. »Du mußt mir meinen John Tschen finden, Brian Kwok!«
»Ja, wir werden ihn finden.«
»Gut. Komm nach dem Essen zu mir! Ich möchte mit dir reden.«
»Ja, Große Dame.« Er lächelte und sah ihr nach und wußte genau, daß sie nichts anderes im Sinn hatte, als für eine ihrer Großnichten die Ehevermittlerin zu spielen.
Was das angeht, werde ich bald etwas unternehmen müssen, dachte er.
Seine Augen kehrten zu Casey zurück. Er freute sich hämisch über die mißbilligenden Blicke der anderen Frauen und die vorsichtige heimliche Bewunderung ihrer Begleiter. Dann hob Casey den Kopf, sah, daß er sie beobachtete, und erwiderte seinen Blick mit der gleichen Offenheit.
Dew neh loh moh, dachte er, mit einem unbehaglichen Gefühl, so als ob er irgendwie unbekleidet dastünde, die möchte ich wirklich gern haben. Dann bemerkte er Roger Crosse und Armstrong neben sich.
»Guten Abend, Sir.«
»Guten Abend, Brian. Sie sehen sehr distinguiert aus.«
»Danke, Sir.« Er wußte, daß eine ähnlich liebenswürdige Äußerung aus seinem Mund nicht erwünscht gewesen wäre. »Ich spreche mit dem Tai-Pan nach dem Essen.«
»Gut. Sie finden die Amerikanerin also bezaubernd?«
»Ja, Sir.« Innerlich seufzte Kwok. Er hatte wieder einmal vergessen,
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