Hongkong 02 - Noble House Hongkong
Jannelli, ihrem Piloten, einen Kaffee als Schlummertrunk zu sich genommen hatte.
Was die Leute hier so alles zusammenessen, ging es ihr durch den Kopf. Und es gibt so viele Menschen, so wenig Arbeitsplätze, so wenige an der Spitze, einer an der Spitze von jedem Haufen, immer ein Mann, alle kämpfen, um die Spitze zu erreichen und dort zu bleiben. Und wofür? Der neue Wagen, das neue Haus, die neue Einrichtung, der neue Kühlschrank, das neue Fernsehgerät oder was immer.
Das Leben ist eine einzige lange Rechnung. Nie ist genügend Geld da für die täglichen Ausgaben, ganz zu schweigen von einer Jacht oder einer Eigentumswohnung an der Küste von Acapulco oder der Côte d’Azur und den Mitteln, um hinzukommen.
Sie hatte Seymour Steigler zum Dinner in ihr Hotel gebeten und alle geschäftlichen Probleme mit ihm durchgesprochen. Hauptsächlich waren es juristische Fragen gewesen.
»Da muß die Eisenbahn drüberfahren können. Bei Ausländern kann man gar nicht vorsichtig genug sein«, meinte er. »Die spielen hier nach anderen Regeln.«
Unter dem Vorwand, noch einen Haufen Arbeit erledigen zu müssen, hatte sie sich verabschiedet. Als ihre Arbeit getan war, machte sie es sich im Lehnsessel gemütlich und fing an zu lesen: Fortune, Business Week, The Wall Street Journal und einige Fachzeitschriften. Dann hatte sie eine neue Lektion Kantonesisch gelernt und das Buch – Peter Marlowes Roman Changi – bis zuletzt gelassen. Sie hatte das abgegriffene Taschenbuch gestern vormittag in einem der vielen Bücherstände in einer Seitenstraße in der Nähe des Hotels gefunden. Das Feilschen hatte ihr Spaß gemacht.
Die Händlerin hatte ursprünglich 22 HK verlangt. Casey hatte sie auf 7,55 heruntergehandelt – und in unmittelbarer Nähe in einem modernen Buchladen das gleiche Taschenbuch neu in der Auslage entdeckt. Hier kostete es 5,75 HK.
Casey hatte die alte Händlerin verwünscht. Aber sie hat dich nicht betrogen, hielt sie sich vor. Sie hat nur besser zu feilschen gewußt. Schließlich ist es nur ein paar Minuten her, daß du frohlockt hast, weil es dir gelungen ist, ihren Gewinn auf null herunterzudrücken – und, weiß Gott, diese Menschen brauchen ihren Gewinn! Heute morgen war sie die Nathan Road zur Boundary Road hinaufspaziert. Es war eine Straße wie jede andere, laut, mit starkem Verkehr, voll von aufdringlichen Reklameschildern, nur daß das Gebiet zwischen der Boundary Road und der Grenze 1997 an China zurückfallen würde. Alles. Im Jahre 1898 hatten die Briten einen Pachtvertrag über das Gebiet abgeschlossen, das sich von der Boundary Road bis zum Sham-Tschun-Fluß erstreckte, der die neue Grenze bilden sollte. »War das nicht dumm?« hatte sie Marlowe gefragt, dem sie nachmittags zufällig in der Hotelhalle begegnet war.
»Jetzt hat es den Anschein«, antwortete er nachdenklich. »Aber damals? Wer weiß? Damals muß es ihnen vernünftig erschienen sein, sonst hätten sie es wohl nicht getan.«
»Ja, aber, du lieber Himmel, neunundneunzig Jahre ist so kurz! Was ist den Briten da nur eingefallen? Sie müssen … nicht recht bei Trost gewesen sein!«
»Ja, so denken Sie heute. Aber in jenen Tagen brauchte ein englischer Premierminister nur zu rülpsen, um eine Welt in Aufregung zu versetzen. In jenen Tagen war der britische Löwe noch ein Löwe. Was bedeutete ein kleiner Streifen Land einer Weltmacht, die über ein Viertel der Erde herrschte?« Er hatte gelächelt. »Überdies leistete die Bevölkerung der New Territories bewaffneten Widerstand – der aber bald erlosch, als der damalige Gouverneur, Sir Henry Blake, die Sache in die Hand nahm. Er führte keinen Krieg gegen sie, er redete mit ihnen. Schließlich erklärten sich die Dorfältesten bereit, vorausgesetzt, ihre Gesetze und Bräuche blieben in Kraft, vorausgesetzt ferner, sie könnten, wenn sie es wünschten, vor ein chinesisches Gericht gehen, und Kowloon City bliebe unter chinesischer Verwaltung.«
»Demnach unterstehen die Bewohner der New Territories immer noch der chinesischen Gerichtsbarkeit?«
»Nach den damaligen Gesetzen – nicht denen der Volksrepublik – und darum werden britische Richter gebraucht, die in der konfuzianischen Rechtsprechung bewandert sind. So nimmt zum Beispiel ein chinesisches Gericht von vornherein an, daß alle Zeugen lügen, daß es ihre Pflicht ist zu lügen und Aufgabe des Richters, die Wahrheit herauszufinden. Zivilisierte Leute geben nichts auf Schwüre, die Wahrheit zu sagen, und ähnliche
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