Hongkong 02 - Noble House Hongkong
Ergebnisse sorgfältiger Untersuchungen – sie fühlte sich seit Wochen nicht wohl, ohne daß ein Grund zu erkennen gewesen wäre.
»Weyyyy?« Lim lauschte kurz; dann wandte er sich um und hielt den Hörer hin.
»Für Sie, Tai-Pan.«
Die anderen atmeten auf und beobachteten Dunross. »Hallo … O hal… Was? …
Nein … Nein, ich komme sofort … Nein, tu nichts, ich bin gleich da.« Sie sahen den Schock auf seinem Gesicht, als er den Hörer auflegte. »Andrew«, sagte er dann, »Claudia soll meine Vorstandssitzungen verschieben. Du und Jacques, ihr macht weiter mit Casey. Das war Philip. Ich fürchte, John wurde gekidnappt.« Er verließ den Saal.
6
14.35 Uhr:
Dunross stieg aus seinem Wagen, eilte durch die offene Tür des großen, im chinesischen Stil erbauten Herrenhauses, das hoch oben auf dem ›Struans Ausguck‹ genannten Berghang stand, und betrat das Wohnzimmer. Der Raum war viktorianisch eingerichtet, protzig und kissenüberladen, mit Möbeln, die nicht zueinander paßten.
»Hallo, Philip«, sagte er, »es tut mir schrecklich leid. Der arme John! Wo ist der Brief?«
»Hier.« Während er sich erhob, nahm Philip das Papier vom Sofa. »Aber zuerst sieh dir das an!« Er deutete auf eine krumpelige Schuhschachtel auf dem Marmortischchen.
Während Dunross das Zimmer durchmaß, sah er Dianne, Philip Tschens Frau, in einem hochlehnigen Sessel in einer Ecke sitzen. »O hallo, Dianne, scheußliche Geschichte«, sagte er.
Sie zuckte teilnahmslos die Achseln. »Joss, Tai-Pan.« Sie war zweiundfünfzig, Eurasierin, Philip Tschens zweite Frau, eine attraktive, juwelenbehängte Matrone, die einen dunkelbraunen chong-sam, eine unschätzbar wertvolle Halskette aus Jadeperlen und – neben vielen anderen Ringen – einen vierkarätigen Brillantring trug. »Ja, Joss«, wiederholte sie.
Dunross nickte. Sie war ihm heute ein wenig mehr als sonst zuwider. Er betrachtete den Inhalt der Schachtel, ohne etwas zu berühren. Zwischen zerknittertem Zeitungspapier sah er eine Füllfeder, die er als Johns Eigentum wiedererkannte, einen Führerschein, ein paar Schlüssel an einem Schlüsselring, einen an John Tschen in Sinclair Towers Nr. 14a gerichteten Brief und ein Plastiksäckchen, in dem ein Stück Tuch steckte. Mit einem Federhalter, den er aus der Tasche nahm, klappte er den Umschlag des Führerscheins auf: John Tschen.
»Öffne das Plastiksäckchen«, sagte Philip.
»Nein. Ich könnte Fingerabdrücke verwischen«, widersprach Dunross und kam sich dumm vor.
»Oh – das hatte ich vergessen. Verdammt! Klar, Fingerabdrücke! Meine sind … Ich habe es natürlich aufgemacht.«
»Was ist drin?«
»Es ist …« Philip Tschen kam herüber, und bevor Dunross ihn aufhalten konnte, zog er das Tuch aus dem Plastiksäckchen, ohne dieses noch einmal zu berühren.
»Auf Stoff kann man ja keine Fingerabdrücke hinterlassen, nicht wahr? Sieh mal!«
Das Tuch enthielt den größeren Teil eines menschlichen Ohrs. Der Schnitt war sauber und scharf, nicht fransig.
Dunross stieß eine leise Verwünschung aus. »Wie ist die Schachtel gekommen?« fragte er.
»Sie wurde abgegeben.« Mit zitternden Händen wickelte Philip Tschen das Ohr wieder ein und legte es in die Schachtel zurück. »Ich habe das Päckchen einfach nur aufgemacht. Vor einer halben Stunde wurde es abgegeben. Es war ein junger Mann, sagte das Mädchen. Ein junger Mann auf einem Motorroller. Sie hat ihn nicht gekannt und hat sich natürlich auch keine Nummer aufgeschrieben. Er sagte: ›Paket für Mr. Philip Tschen‹ und fuhr weg.«
»Hast du die Polizei verständigt?«
»Nein, Tai-Pan, du hast gesagt, ich solle nichts tun.«
Dunross ging zum Telefon.
»Hast du Johns Frau angerufen?«
Sofort mischte Dianne sich ein. »Warum sollte Philip ihr schlechte Nachrichten überbringen? Sie kriegt einen Koller, daß die Wände wackeln. Barbara anrufen? Ach du liebe Zeit, nein, Tai-Pan … Erst benachrichtigen wir die Polizei, die soll es ihr sagen. Die wissen, wie man so was macht.«
Dunross’ Abscheu nahm zu. »Du tätest gut daran, sie möglichst rasch herkommen zu lassen.« Er rief die Polizeidirektion an und fragte nach Armstrong. Er war nicht im Haus. Dunross bat um Rückruf und ließ sich dann mit Brian Kwok verbinden.
»Ja, Tai-Pan?«
»Brian, könnten Sie gleich herkommen? Ich bin in Philip Tschens Haus auf ›Struans Ausguck‹. John Tschen wurde gekidnappt.« Er berichtete ihm vom Inhalt der Schuhschachtel.
Schockiertes Schweigen am anderen
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