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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Stipendium kommt. Es kann nur in einer der beiden übriggebliebenen Kisten sein, also ist die Wahrscheinlichkeit für beide gleich groß.« Er wollte aufstehen, sank aber wieder auf seinen Stuhl zurück. »Mir wird ganz schwindlig, wenn ich darüber nachdenke.«
    »Gehen wir die Frage nochmals anders an«, sagte ich. »Angenommen, wir haben eine Million Kisten. Dieselben Regeln. Sagen wir, du wählst Kiste siebenhunderttausend. [297] Monty öffnet eine Kiste nach der anderen, alle leer. Die Kiste mit deinem Preis lässt er konsequent aus. Am Ende sind nur noch zwei geschlossene Kisten übrig, deine und, sagen wir, Nummer fünfundneunzig. Wie stehen die Chancen jetzt?«
    »Genau gleich«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Halbe-halbe für jede der beiden Kisten.«
    Ich gab mir Mühe, nicht wie mit einem Kind zu sprechen. »Tom, die Chance, dass der Preis in deiner Kiste ist, steht eins zu einer Million, umgekehrt ist es nahezu sicher, dass er in der anderen ist.«
    Wieder schien ihn die Erkenntnis zu streifen, dann war sie wieder weg. »Also, nein, ich glaube, das stimmt nicht, ich meine, ich… Ich glaub, ich muss kotzen.«
    Er stand taumelnd auf und hastete ohne Abschiedsgruß an den Kellnern vorbei. Als ich ihn draußen einholte, lehnte er an einem Auto und starrte auf seine Schuhe. Die kalte Luft hatte ihm gutgetan, und er hatte sich doch nicht übergeben müssen. Arm in Arm machten wir uns auf den Heimweg.
    Als er mir wieder einigermaßen erholt vorkam, sagte ich: »Wenn es dir hilft, können wir das mit Spielkarten empirisch überprüfen. Wir könnten…«
    »Serena, Liebling, genug. Wenn ich weiter darüber nachdenke, kommt’s mir wirklich hoch.«
    »Du wolltest doch etwas Kontra-Intuitives.«
    »Ja. Entschuldige. Ich werde dich nie wieder so etwas fragen. Bleiben wir lieber bei Pro-Intuitivem.«
    Also wechselten wir das Thema. Oben in der Wohnung legten wir uns gleich ins Bett und schliefen sofort ein. Aber [298] am frühen Sonntagmorgen rüttelte Tom mich aus wirren Träumen, er war ganz aufgeregt.
    »Ich hab’s! Serena, ich verstehe jetzt, wie das funktioniert. Alles, was du gesagt hast, glasklar. Plötzlich hab ich’s gesehen, wie bei einer Kippfigur, wie der Würfel von diesem – wie heißt er noch?«
    »Necker.«
    »Und ich kann daraus sogar etwas machen . «
    »Ja, warum nicht…«
    Das Rattern seiner Schreibmaschine im Nebenzimmer wiegte mich in den Schlaf, erst drei Stunden später wachte ich wieder auf. An diesem Sonntag erwähnten wir Monty Hall so gut wie nicht mehr. Während Tom arbeitete, machte ich uns einen Braten zum Mittagessen. Vielleicht lag es am Kater, aber die Aussicht, in mein einsames Zimmer in der St. Augustine’s Road zurückzukehren, meinen kleinen Heizofen anzuwerfen, mir die Haare im Waschbecken zu waschen und eine Bluse für die Arbeit zu bügeln, stimmte mich noch trauriger als sonst.
    Im düsteren Nachmittagslicht brachte Tom mich zum Bahnhof. Als wir uns auf dem Bahnsteig umarmten, war ich den Tränen nahe. Doch ich riss mich zusammen, ich glaube nicht, dass er es gemerkt hat.

[299] 16
    Drei Tage später kam seine Geschichte mit der Post. An das Deckblatt war eine Postkarte vom West Pier geheftet, auf deren Rückseite stand: »Habe ich den Dreh jetzt raus?«
    Ich machte mir einen Tee und las Vermutlich Ehebruch in der eiskalten Küche, bevor ich zur Arbeit ging. Die kinderlose Ehe des Londoner Architekten Terry Mole leidet beträchtlich unter den ständigen Seitensprüngen seiner Frau Sally. Sie hat keinen Job, keine Kinder, eine Putzhilfe, die den Haushalt erledigt, und kann sich daher unbekümmert und unentwegt dem Ehebruch widmen . Zudem kifft sie täglich und gönnt sich vor dem Mittagessen einen großen Whisky oder zwei. Unterdessen schuftet Terry siebzig Stunden die Woche und entwirft kostengünstige Wohnsilos, die wahrscheinlich binnen fünfzehn Jahren wieder abgerissen werden. Sally trifft sich mit Männern, die sie kaum kennt. Ihre Lügen und Ausflüchte waren beleidigend durchsichtig, aber überführen konnte er sie nie. Dazu fehlte ihm die Zeit . Als aber eines Tages ein paar Baustellentermine ausfallen, beschließt der Architekt, seiner Frau in diesen freien Stunden ein wenig nachzuspionieren. Von Schwermut und Eifersucht zerfressen, musste er sie mit einem anderen Mann sehen, um sich in seinem Elend zu [300] suhlen und seinen Entschluss zu stärken, sie zu verlassen. Sie hat ihm erzählt, dass sie den Tag bei ihrer Tante in St. Albans verbringen wird.

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