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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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verloren. Und dann: Als Terry gerade Anlauf nehmen will, um die Tür von Zimmer 401 einzutreten, hört er ein Stockwerk tiefer zwei Zimmermädchen reden. Ihre Stimmen dringen deutlich zu ihm hoch. Eine sagt: »Ich geh jetzt rauf und mach eins der beiden leeren Zimmer.« Und die andere sagt: »Denk an das Pärchen, die sind auf ihrem üblichen Zimmer.« Sie kichern wissend.
    Terry hört das Zimmermädchen die Treppe heraufkommen. Als Amateurmathematiker erkennt er sofort die einmalige Gelegenheit, die sich ihm bietet. Er muss rasch nachdenken. Wenn er sich vor irgendeine der drei Türen [306] stellt, zum Beispiel 401, zwingt er das Zimmermädchen, eine der beiden anderen zu wählen. Sie weiß, in welchem Zimmer sich das Paar befindet. Ihn selbst wird sie entweder für einen neuen Gast halten, der gerade in sein Zimmer will, oder für einen Freund des Paares, der vor der Tür auf die beiden wartet. Egal in welches Zimmer sie geht, Terry wird das andere nehmen und so seine Chancen verdoppeln. Und genau so geschieht es. Das Zimmermädchen, das von dem Baby die Hasenscharte geerbt hat, sieht Terry, nickt und geht in Zimmer 403. Terry entscheidet sich um, nimmt Anlauf, tritt Tür 402 ein und ertappt Sally und ihren Liebhaber in flagranti.
    Nun war ich in Fahrt und befand, Tom könne ruhig noch einige offene Fragen klären. Warum bricht Terry nicht einfach alle Türen auf, zumal er ja jetzt weiß, dass zwei Zimmer leer sind? Weil das Paar ihn dann hören würde und er nicht auf das Überraschungsmoment verzichten will. Warum wartet er nicht ab, bis das Mädchen mit dem Zimmer fertig ist und vielleicht gleich das nächste putzt – schließlich wüsste er dann genau, wo seine Frau zu finden ist? Weil schon zu Beginn darauf hingewiesen wird, dass er noch einen wichtigen Termin auf der Baustelle hat und bald nach London zurückmuss.
    Nach vierzig Minuten hatte ich drei Seiten getippt. Von Hand schrieb ich noch einen kleinen Begleitbrief dazu und erklärte auf möglichst einfache Weise, warum das mit dem indischen Paar nicht ging. Ich nahm einen neutralen Umschlag ohne das Emblem der Staatsdruckerei, fand ganz unten in meiner Handtasche eine Briefmarke und schaffte es gerade noch zum Briefkasten in der Park Lane, ehe ich [307] wieder an die Arbeit musste. Wie stumpfsinning es mir nach Toms Geschichte erschien, mich mit der illegalen Fracht der ›Claudia‹ zu befassen, fünf Tonnen Sprengstoff, Waffen und Munition, ein relativ enttäuschender Fang. Eine Aktennotiz äußerte die Vermutung, Ghaddafi habe der Provisorischen IRA nicht getraut, eine andere wiederholte, dass der » MI 6 den Bogen überspannt« habe. Was ging mich das an.
    So zufrieden wie an diesem Abend war ich in Camden die ganze Woche nicht zu Bett gegangen. Mein kleiner Koffer stand schon bereit, am nächsten Abend würde ich ihn für meine freitägliche Fahrt nach Brighton packen. Nur noch zwei Arbeitstage zu überstehen. Wenn ich bei Tom ankäme, hätte er meinen Brief schon gelesen. Ich würde ihm noch einmal sagen, wie gut seine Geschichte war, ich würde ihm die Wahrscheinlichkeitsverteilung noch einmal und diesmal besser erklären. Dann könnten wir uns wieder unseren Gewohnheiten und Ritualen widmen.
    Bei den Wahrscheinlichkeitsberechnungen handelte es sich ja letztlich nur um technische Details. Die Stärken der Geschichte lagen woanders. Während ich im Dunkeln auf den Schlaf wartete, streifte mich eine Ahnung davon, was Erfindung war. Als Leserin, als Schnellleserin, setzte ich das als etwas Gegebenes voraus, ich hatte mir über diesen Vorgang nie Gedanken gemacht. Man nahm ein Buch aus dem Regal und hatte eine erfundene, mit Menschen bevölkerte Welt in der Hand, so einleuchtend wie die, in der man lebte. Wie Tom im Restaurant, als er sich über Monty Hall den Kopf zerbrach, glaubte ich nun zu erkennen, worin der Trick bestand, zumindest ansatzweise. Es war so ähnlich [308] wie Kochen, dachte ich schläfrig. Nur dass nicht Hitze die Zutaten umwandelte, sondern reine Erfindung, ein Funke, eine geheimnisvolle Ingredienz. Das Ergebnis war mehr als die Summe seiner Teile. Ich versuchte sie aufzuzählen: Tom hatte Terry mit meinen Kenntnissen der Wahrscheinlichkeitsrechnung ausgestattet und zugleich seine eigene heimliche Erregung bei der Vorstellung, ein Hahnrei zu sein, auf ihn übertragen. Zuvor aber hatte er sie in etwas Akzeptableres verwandelt – rasende Eifersucht. Etwas vom chaotischen Leben von Toms Schwester war auf Sally übergegangen. Dann

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