Honig
wilden Sprüngen, und das war so ein Schub. Den ersten hatte ich im White Tower erlebt. Dieser hier war sehr viel mächtiger. Wie Sebastian Morel in Racheakte taumelte ich durch ein dimensionsloses Vakuum, während ich gleichzeitig sittsam lächelnd in einem Brightoner Fischrestaurant saß. Und doch war da an den äußersten Rändern meiner Gedanken die ganze Zeit dieser winzige Fleck. Meistens versuchte ich ihn zu ignorieren, und bei meiner Aufgeregtheit gelang das auch oft. Dann war mir wieder zumute wie einer Frau, die einen Abgrund hinunterstürzt und im Fall nach einem Grasbüschel greift, das viel zu mickrig ist, um Halt zu bieten, und mir stand klar vor Augen, dass Tom nicht wusste, wer ich war und was ich wirklich machte, und dass ich es ihm jetzt sagen musste. Letzte Chance! Tu es, sag’s ihm, jetzt! Aber es war zu spät. Die Wahrheit wog zu schwer, sie würde uns vernichten. Er würde mich in alle Ewigkeit hassen. Ich stürzte bereits den Abgrund hinunter und konnte nicht mehr zurück. Ich konnte mir all die Segnungen aufzählen, die ich in sein Leben gebracht hatte, die künstlerische Freiheit, die er mir verdankte, doch Tatsache war: Wenn ich ihn nicht verlieren wollte, musste ich bei meinen Lügenmärchen bleiben.
Seine Hand schloss sich um mein Handgelenk. Der Kellner trat heran und schenkte uns nach.
»Das ist der richtige Augenblick, es dir zu sagen«, verkündete Tom. Er hob sein Glas, ich tat es ihm sogleich nach. »Du weißt, ich schreibe diese Geschichten für Ian Hamilton. Eine davon wurde auf einmal länger und länger, [292] und plötzlich ist mir klargeworden, das ist der kurze Roman, der mir schon seit einem Jahr vorschwebt. Ich war so aufgeregt, ich wollte es dir gleich erzählen, ich wollte ihn dir zeigen. Aber ich habe mich nicht getraut, es hätte ja auch schiefgehen können. Letzte Woche habe ich einen ersten Entwurf beendet, einen Teil davon fotokopiert und diesem Verleger geschickt, von dem mir alle ständig erzählen. Tom Mischler. Nein, Maschler. Heute früh kam ein Brief von ihm. So bald hatte ich nicht mit einer Reaktion gerechnet. Ich habe den Brief erst am Nachmittag geöffnet, als ich in der Stadt war. Serena, er will das Buch! Dringend. Er will bis Weihnachten eine brauchbare Endfassung haben.«
Der Arm tat mir weh, weil ich immer noch mein Glas hochhielt. Ich sagte: »Tom, das ist ja phantastisch. Gratuliere! Auf dich!«
Wir tranken einen ordentlichen Schluck. Er sagte: »Es ist ziemlich finster. Spielt in der nahen Zukunft, alles ist in Trümmern. Ein bisschen wie bei Ballard. Aber ich glaube, es wird dir gefallen.«
»Wie endet es? Geht es gut aus?«
Er lächelte mich nachsichtig an. »Natürlich nicht.«
»Wundervoll.«
Man brachte uns die Speisekarten, und wir bestellten Seezunge und dazu statt Weißwein einen kräftigen Rioja, um zu beweisen, dass wir freie Geister waren. Tom sprach weiter von seinem Roman und von seinem neuen Verleger, der auch Joseph Heller, Philip Roth und Gabriel García Márquez im Programm hatte. Ich überlegte, wie ich Max die Neuigkeit beibringen sollte. Eine kapitalismusfeindliche Antiutopie. Während andere Honig-Autoren [293] Sachbuch-Variationen von Farm der Tiere ablieferten. Aber immerhin war mein Autor ein kreativer Kopf, der seinen eigenen Weg ging. Das würde ich dann auch tun, nach meiner Entlassung.
Lächerlich. Jetzt war Zeit zum Feiern, denn an Toms Roman, den wir inzwischen »die Novelle« nannten, konnte ich ja nichts mehr ändern. Wir tranken und aßen und redeten und stießen auf alle möglichen guten Aussichten an. Gegen Ende des Abends, als nur noch ein halbes Dutzend Gäste übrig waren und die Kellner gähnend um uns herumlungerten, bemerkte Tom in gespielt vorwurfsvollem Ton: »Ich erzähle dir dauernd von Gedichten und Romanen, aber du hast mir noch nie was über Mathematik erzählt. Wird allmählich Zeit.«
»Ich war nicht besonders gut darin«, sagte ich. »Ich hab das alles hinter mir gelassen.«
»Das reicht nicht. Ich möchte, dass du mir was… was Interessantes erzählst, nein, was Kontra-Intuitives, Paradoxes. Du schuldest mir eine gute Mathe-Geschichte.«
Nichts an der Mathematik war mir jemals kontra-intuitiv vorgekommen. Entweder verstand ich es, oder ich verstand es nicht, seit meinem ersten Tag in Cambridge hauptsächlich Letzteres. Aber die Herausforderung reizte mich. »Lass mir ein paar Minuten«, sagte ich. Tom begann von seiner neuen elektrischen Schreibmaschine zu sprechen, und wie schnell er
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