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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Stattdessen geht sie zur Victoria Station, und Terry ihr hinterher.
    Sie steigt in den Zug nach Brighton, er steigt ebenfalls ein, zwei Waggons hinter ihr. Er folgt ihr durch die Stadt, über die Old Steine und durch die Nebenstraßen von Kemp Town, bis zu einem kleinen Hotel in Upper Rock Gardens. Vom Bürgersteig aus sieht er sie im Foyer mit einem Mann, einem, wie Terry denkt, zum Glück recht schmächtigen Kerl. Das Paar lässt sich vom Portier einen Schlüssel geben und verschwindet die enge Treppe hinauf. Terry betritt das Hotel und geht, vom Portier unbemerkt oder ignoriert, ebenfalls die Treppe hoch. Er hört ihre Schritte über sich. Als sie die vierte Etage erreichen, bleibt er stehen. Er hört eine Tür auf- und dann zugehen. Er tritt in den Flur. Dort gibt es nur drei Zimmer, 401, 402 und 403. Er nimmt sich vor zu warten, bis das Paar im Bett liegt, dann will er die Tür eintreten, seine Frau bloßstellen und dem Zwerg die Fresse polieren.
    Aber er weiß nicht, in welchem Zimmer sie sind.
    Er steht auf dem Flur und horcht. Er lechzte nach dem kleinsten Geräusch, einem Stöhnen, einem Wimmern, einem Quietschen der Bettfedern, alles wäre ihm recht gewesen. Aber es kam nichts. Minuten vergehen, er muss eine Wahl treffen. Er entscheidet sich für Zimmer 401, weil es das nächste ist. Die Türen machen keinen sonderlich stabilen Eindruck, ein ordentlicher Tritt wird reichen. Gerade will er Anlauf nehmen, da geht Tür 403 auf, und heraus tritt ein indisches Paar mit einem Baby, das eine [301] Hasenscharte hat. Sie lächeln schüchtern, als sie an ihm vorbeigehen.
    Terry sieht sie im Treppenhaus verschwinden und denkt noch einmal nach. Nun wird es spannend, die Geschichte steuert auf ihren Höhepunkt zu. Als Architekt und Amateurmathematiker kennt er sich mit Zahlen aus. Er beginnt hektisch zu rechnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Frau in Zimmer 401 ist, hat von Anfang an ein Drittel betragen. Folglich betrug die Wahrscheinlichkeit, dass sie in 402 oder 403 ist, bis eben noch zwei Drittel. Wie sich jetzt herausgestellt hat, ist 403 leer, also befindet sich Sally mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln in 402. Nur ein Idiot würde an seiner ersten Entscheidung festhalten, denn die ehernen Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung sind unabänderlich wahr. Er nimmt Anlauf, er springt, die Tür von 402 kracht auf, und da liegen die beiden im Bett, sie sind nackt und wollen gerade loslegen. Er verpasste dem Mann einen kräftigen Kinnhaken, warf seiner Frau einen Blick kalter Verachtung zu, dann fährt er zurück nach London, wo er die Scheidung einreichen und ein neues Leben beginnen wird.
    Den ganzen Mittwoch über war ich damit beschäftigt, Dokumente zu einem gewissen Joe Cahill von der Provisorischen IRA zu sortieren und abzulegen; es ging um seine Verbindungen zu Oberst Ghaddafi und um eine Schiffsladung Waffen aus Libyen, die der MI 6 aufgespürt und die irische Marine Ende März vor Waterford abgefangen hatte. Cahill war an Bord des Schiffes und ahnte von nichts, bis er auf einmal den Lauf einer Pistole im Nacken spürte. Soweit [302] ich das aus angehefteten Nachträgen schließen konnte, waren unsere Leute nicht eingeweiht gewesen und entsprechend verärgert. »So ein Fehler«, hieß es in einer wütenden Aktennotiz, »darf nicht noch einmal passieren.« Recht interessant, in gewisser Weise. Aber ein anderer Schauplatz interessierte mich weit mehr als das brave Schiff ›Claudia‹ – der Kopf meines Geliebten. Ich war gereizt, beunruhigt. In jeder Arbeitspause kehrten meine Gedanken zu den Türen in der vierten Etage eines Brightoner Hotels zurück.
    Toms Geschichte war gut. Vielleicht nicht eine seiner besten, doch er war wieder in Form, in der richtigen Form. Aber als ich sie an jenem Morgen las, wusste ich sofort, dass sie nicht aufging. Sie beruhte auf trügerischen Annahmen, untauglichen Parallelen und falscher Mathematik. Er hatte weder mich noch das Problem verstanden. Sein Hochgefühl, sein Necker-Würfel-Moment, hatte ihn mit sich fortgerissen. Ich schämte mich für seine jungenhafte Euphorie, schämte mich dafür, dass ich an dem Morgen wieder eingeschlafen war und nach dem Aufwachen nicht mehr mit ihm darüber geredet hatte. Ihn hatte die Idee begeistert, das Monty-Hall-Paradox in einer Erzählung darzustellen. Sein Vorhaben war ambitiös – ein mathematisches Problem zu dramatisieren und ihm auf diese Weise eine moralische Dimension zu verleihen. Seine Botschaft auf der

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