Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
damit arbeiten würde. Dann fiel mir etwas ein.
    »Das hat damals unter den Mathematikern in Cambridge die Runde gemacht. Soweit ich weiß, hat bis jetzt niemand etwas darüber geschrieben. Es ist ein [294] Wahrscheinlichkeitsproblem, und zwar in Form einer Frage. Stammt aus einer amerikanischen Gameshow, Let’s Make a Deal . Der Moderator damals hieß Monty Hall. Nehmen wir an, du bist Kandidat in seiner Show. Vor dir stehen drei verschlossene Kisten, eins, zwei und drei, und in einer davon, du weißt nicht, in welcher, befindet sich ein großer Preis – zum Beispiel…«
    »Ein schönes Mädchen, das ein Riesenstipendium zu vergeben hat.«
    »Genau. Im Gegensatz zu dir weiß Monty, in welcher Kiste sich dein Stipendium befindet. Du musst dich entscheiden. Sagen wir, du nimmst Kiste eins, aber die bleibt erst mal zu. Monty, der ja weiß, wo das Stipendium versteckt ist, öffnet nun eine Kiste, von der er weiß, dass sie leer ist. Sagen wir, Kiste drei. Jetzt weißt du also, dass dein lebenslanges Riesenstipendium sich entweder in der Kiste befindet, die du gewählt hast, Kiste eins, oder in Kiste zwei. Nun gibt dir Monty die Chance, dich umzuentscheiden, du kannst Kiste zwei wählen oder bei deiner ersten Wahl bleiben. In welcher Kiste ist dein Stipendium mit größerer Wahrscheinlichkeit? Solltest du wechseln oder bei deiner ersten Wahl bleiben?«
    Unser Kellner brachte die Rechnung auf einem Silberteller. Tom griff schon nach seinem Portemonnaie, ließ die Hand dann aber sinken. Nach all dem Wein und Champagner wirkte er noch erstaunlich klar. Ich auch. Beide wollten wir einander beweisen, dass wir einiges vertrugen.
    »Das liegt doch auf der Hand. Bei Kiste eins hatte ich am Anfang eine Chance von einem Drittel. Wenn Kiste drei geöffnet wird, steigt meine Chance auf ein halb. Dasselbe [295] muss für Kiste zwei gelten. Die Chancen, dass das riesige Stipendium in jeder der beiden Kisten ist, sind gleich groß. Es ist egal, ob ich wechsle oder nicht. Serena, wie unerträglich schön du gerade aussiehst.«
    »Danke. Mit dieser Konklusion bist du in guter Gesellschaft. Aber du irrst dich. Wenn du die andere Kiste nimmst, verdoppelst du deine Chance, nie mehr arbeiten zu müssen.«
    »Unsinn.«
    Ich sah zu, wie er sein Portemonnaie herausnahm, um die Rechnung zu begleichen. Fast dreißig Pfund. Er warf noch zwanzig Pfund Trinkgeld drauf, und die Nonchalance dieser Geste zeigte mir, wie betrunken er war. Das war mehr als ein Wochenlohn von mir. Aber er saß in der Präzedenzfall-Falle und kam da nicht mehr raus.
    Ich sagte: »Deine Chance, die Kiste mit dem Stipendium gewählt zu haben, ist nach wie vor ein Drittel. Die Summe der Wahrscheinlichkeiten muss eins ergeben. Also ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich in einer der beiden anderen Kisten befindet, zwei Drittel. Kiste drei ist nun offen und leer, also befindet es sich mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln in Kiste zwei.«
    Er sah mich mitleidig an, als sei ich eine fanatisierte Anhängerin einer radikalen Sekte. »Monty hat eine Kiste geöffnet, dadurch hat er mir zusätzliche Information gegeben. Vorher standen meine Chancen eins zu zwei. Jetzt stehen sie halbe-halbe.«
    »Das würde nur stimmen, wenn du erst reingekommen wärst, nachdem er die Kiste geöffnet hat, und er dich dann auffordern würde, dich zwischen den beiden anderen [296] Kisten zu entscheiden. Dann stünden deine Chancen tatsächlich halbe-halbe.«
    »Serena. Du überraschst mich. Du siehst das einfach nicht.«
    In mir stieg eine ganz bestimmte, ungewohnte Freude auf, die etwas Befreiendes hatte. In einem Teil des geistigen Raums, einem ziemlich großen Teil womöglich, war ich also tatsächlich klüger als Tom. Wie eigenartig. Was für mich so klar und einfach war, überstieg offenbar sein Fassungsvermögen.
    »Betrachte es mal so«, sagte ich. »Von Kiste eins zu Kiste zwei zu wechseln ist nur dann eine schlechte Idee, wenn deine erste Wahl die richtige war und dein Stipendium sich in Kiste eins befindet. Und die Wahrscheinlichkeit dafür ist ein Drittel. Also ist Wechseln in einem Drittel aller Fälle eine schlechte Idee, und das heißt, in zwei Dritteln aller Fälle ist es eine gute Idee.«
    Er runzelte angestrengt die Stirn. Er hatte einen kurzen Blick auf die Wahrheit erhascht, dann hatte er geblinzelt, und weg war sie.
    »Ich weiß, dass ich recht habe«, sagte er. »Ich kann es nur nicht so gut erklären. Dieser Monty hat ganz willkürlich bestimmt, in welche Kiste mein

Weitere Kostenlose Bücher